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Die notwendige Kritik an den „anderen“

Heftige Kritik an anderen ist in vielen Fällen eine Verschleierung eigener Mängel und Unzulänglichkeiten. Es ist aus der Psychologie bekannt, dass Kritik an anderen aus der Verletzung der eigenen Persönlichkeit resultiert, aus der Angst, nicht angenommen und nicht akzeptiert zu werden. Die eigene Unsicherheit wird in Kritik an anderen umgelegt.

Jeder kennt es aus Projekten: Wenn die Dinge schief laufen, dann muss für alles, was schief läuft, jemand verantwortlich gemacht werden. Was im Kleinen beginnt, setzt sich im Großen und im Politischen fort.

Klare Beurteilungen sind natürlich wichtig. Unreflektierte Verurteilungen verstärken allerdings die Probleme, die man vorgibt, lösen zu wollen. Und vielleicht geht es auch gar nicht um das Lösen, sondern um das Kultivieren der Probleme.

Kritik ist angewandte denkende Vernunft und wird als die Fähigkeit zum Urteil verstanden. Konstruktive Kritik ist eine Anregung von außen als Anstoß zur Selbstreflexion. Selbstkritik ist ein innerer Prozess, der in Analyse der Mängel, Fehler und Schwächen – bestenfalls – zur Reflexion führt.

Die Fähigkeit zur Kritik (und Selbstkritik) ist aus folgenden Gründen allerdings stark beeinträchtigt:

Bestätigungsfehler: Menschen neigen dazu, Informationen zu suchen, zu interpretieren und sich zu merken, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen.

Emotionale Voreingenommenheit: Emotionen beeinflussen die Wahrnehmung und Beurteilung stark, was insbesondere in Situationen, in denen emotionaler Stress vorherrscht, verstärkt wird.

Motiviertes Denken: Menschen haben oft den Wunsch, bestimmte Schlussfolgerungen zu erreichen, die ihren Bedürfnissen oder Wünschen entsprechen.

Soziale Identität: Menschen werden durch Gruppen, denen sie direkt oder indirekt angehören, beeinflusst. Verstärkt wird diese Tendenz durch Blasenbildung und Echokammern.

Komplexitätsreduktion: Menschen vereinfachen komplexe Informationen, um sie leichter zu verarbeiten. Meinungen basieren häufig auf unvollständigen oder einseitigen Informationen.

Die Psychologin Stefanie Stahl hält zu unberechtigter Kritik fest:

Diskutieren ist leider nur so lange sinnvoll, wie man ein Gegenüber hat, das gewillt ist, sich auf Argumente einzulassen, was ja längst nicht immer der Fall ist. Wenn dein Gegenüber stur auf seinem Recht beharrt und/oder seine Argumentation auf seinen subjektiven Interpretationen und Unterstellungen beruht, dann stehst du auf verlorenem Posten. Deshalb ist auch wichtig, dass du weißt, wann du loslassen musst. Das heißt, dass du nicht nur deine eigenen Argumente auf Fakt und Interpretation hin untersuchst, sondern auch jene deines Gesprächspartners. Wenn dich beispielsweise jemand kritisiert, dann muss er seine Kritik an ganz konkreten Verhaltensweisen von dir festmachen können. Kann er dies nicht, dann beruht seine Kritik auf seiner subjektiven Interpretation, und dann brauchst du dir den Schuh nicht anzuziehen.

Kritik ohne konkrete Anhaltspunkte, ohne die Fähigkeit und den Willen zum Diskurs, resultiert aus vorgefertigten Meinungsmustern, die nicht selten aus persönlichen Kränkungen resultieren. Die Losung lautet: Nicht auf „Rechtfertigungsorgien“ einlassen und nicht dem Wunsch erliegen, doch noch eine Zustimmung und Anerkennung zu erzielen, die allerdings aussichtslos sind.

Kränkungen und die „anderen“

Der Mangel an Selbstkritik und die überharte Kritik an anderen hat aber auch psychologische Aspekte:

Grundsätzlich haben Menschen mit geringem Selbstbewusstsein eine immanente Angst vor Reflexion und Fehlerbewusstsein, was aus einer instabilen Persönlichkeit resultiert.

Heftige Kritik an anderen ist in vielen Fällen eine Verschleierung eigener Mängel und Unzulänglichkeiten. Es ist aus der Psychologie bekannt, dass Kritik an anderen aus der Verletzung der eigenen Persönlichkeit resultiert, aus der Angst, nicht angenommen und nicht akzeptiert zu werden. Die eigene Unsicherheit wird in Kritik an anderen umgelegt.

Verfolgt werden damit diverse Strategien:

Projektion: Projektion ist ein Abwehrmechanismus, bei dem eine Person ihre eigenen unerwünschten Gefühle, Eigenschaften oder Wünsche auf andere überträgt. Dadurch wird sich eine Selbstaufwertung versprochen, indem das Abwerten der anderen das eigene Ego (kurzfristig) bestärkt.

Selbstschutz: Durch das Hervorheben der Fehler anderer kann eine Person von ihren eigenen Unzulänglichkeiten ablenken und es soll ein vermeintlicher Selbstschutz erzielt werden. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Mängel anderer richtet, vermeidet sie es, sich mit ihren eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Dies dient dem Schutz des eigenen Selbstbildes und Selbstwertgefühls.

Kognitive Dissonanz: Eine Kognition ist die Erkenntnis eines Individuums über die Wirklichkeit. Kognitive Dissonanz bezeichnet den Zustand, in dem verschiedene Kognitionen (Gedanken, Überzeugungen, Wahrnehmungen, Emotionen) im Widerspruch stehen, etwa Haltung und Handlung. Infolgedessen ist Kritik an anderen vielfach der Versuch, die Dissonanz zu reduzieren.

Literatur:

[1] Stefanie Stahl: „Das Kind in dir muss Heimat finden“, Kailash Verlag, München 2017