Vielfach genügt die „Moderne“, wie sie heute architektonisch unter Einfluss des „International Style“ praktiziert wird, unserem Anspruch nach Identifikation mit dem Gebauten, historischer Anknüpfung und Regionalität nicht. Die Frage nach Alternativen wird laut und kann auch Antworten finden. Gerade heute, wo das Thema Tradition neu entdeckt wird und durchaus modern konzipiert werden will. Von weißen Kuben der Bauhaus-Moderne, die überall auf der Welt gleich aussehen, will heute (fast) niemand mehr etwas wissen.
Als Pendant zur mehr und mehr avantgardistischen Bauhaus-Moderne entwickelte sich die der Reform nahestehende „Stuttgarter Schule“ rund um Paul Schmitthenner und Paul Bonatz.
Reform, das war ein kulturpessimistischer Zugang zu Moderne und Fortschrittsgläubigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geprägt durch Nietzsche und Schopenhauer. Wenngleich die bauliche Bewegung, die in Stuttgart entstand, in technologischen Angelegenheiten fortschrittlich und modern ausgerichtet und mit dem Historismus nicht mehr einverstanden war. Aber es war eben eine „andere“ Moderne: Technologisch fortschrittlich, aber ästhetisch an Anknüpfung an die bauliche Tradition interessiert.
Schmitthenner und Bonatz waren Schüler von Theodor Fischer. Man kann die Architektur der Stuttgarter Schule treffend als einen „modernen Klassizismus“ bezeichnen, „der eine Synthese aus dem Einfachen und Wirtschaftlichen, bewährter Tradition und technischem Fortschritt bilden sollte“[i].
Schmitthenner wollte das Bauen aus dem Elementaren heraus begründen: „Die ursprünglichen Dinge sind wesentlich, denn nur aus Ursprung entsteht wirkliches, eigenes Leben“[ii]. Aus dieser Haltung heraus entstanden harmonische Bauwerke, schlicht und einfach, aber doch schlüssig in die Umgebung eingefügt, mit einer inneren Haltung und mit innerer Ordnung. Diese Haltung lässt sich aus den Worten Schmitthenners wie folgt charakterisieren: „Nur im geduldigen Folgen der Bindungen, im Erkennen der Zusammenhänge, im völligen geistigen Durchdringen, im Zusammenwirken von Geist und Hand gelingt es, die Form zu finden und die spröde Materie zu beseelen“[iii].

Das zentrale Motiv bei Schmitthenner ist die Einheit von Materie und Form im Bauen, aus der eine bestimmte „Richtigkeit“ resultiert: „Die Gesetze vom Zusammenhang zwischen Stoff und Form sind Naturgesetze und unveränderlich. Stoff und Form sind wie Körper und Seele. Das Seelische, das Geistige wandelt sich, der Stoff bleibt. Die Vollkommenheit liegt im Zusammenhang. Vollendung, wenn Stoff und Form zu untrennbarer Einheit geworden sind. Das ist das Wesen der Synthese“[iv].
Der Architekt und Architekturtheoretiker Friedrich Ostendorf, der ebenso als Vertreter der Reformarchitektur zu bewerten ist und als Student ebenso wie Paul Schmitthenner Mitglied der Stuttgarter Burschenschaft Ghibellinia wirde, brachte es folgend auf den Punkt: „Entwerfen heißt, die einfachste Erscheinungsform zu finden“[v]. Einfachheit bezog sich bei Ostendorf allerdings nicht auf das Äußere, sondern auf den gesamten „Organismus“. Die Form ergebe sich aus der Idee und in der Folge aus Notwendigkeiten, Materialgerechtigkeit, Ehrlichkeit der Konstruktion und Kontext.
Ablehnend stand Ostendorf infolgedessen dem Historismus gegenüber, weil die Beziehung zwischen Idee, Grundriss und Aufriss mit Fassade nicht mehr gegeben war. Wie im Katalog wurde die Fassade willkürlich an einen gegebenen Grundriss gehängt. Die ornamentale Ausgestaltung im Historismus stand in keinerlei Verhältnis zum baulichen Kontext. Ein solches Bauen war Ostendorf zufolge „falsch“. Stattdessen strebte Ostendorf eine Fortführung der baulichen Tradition des frühen 19. Jahrhunderts an, die sich durch Einfachheit, Schlichtheit und Natürlichkeit auszeichnete.
Von den sechs „Büchern vom Bauen“, die Ostendorf beabsichtigte, wurden nur drei veröffentlicht. 1915 sollte Ostendorf in Frankreich fallen und folglich modern sein, noch bevor eine bauliche „Moderne“ als solche explizit in Anspruch gestellt werden sollte.
Friedrich Ostendorf gilt darüber hinaus als profunder Kenner der Architekturgeschichte und befasste sich intensivst mit der Konstruktion historischer Dachstühle – seine Forschungsergebnisse sind bis heute hin herausragend.

Ein weiterer Vertreter der Reformarchitektur war der aus Rostock stammende Architekt Heinrich Tessenow. Tessenow, der Mitglied des Corps Lusatia in Dresden war, war im Bauen an elementarer Einfachheit gelegen und lehnte die bürgerliche Welt ab. Unter Verweis auf elementare, bodenständige geometrische Formen und unter Vernachlässigung des Unwesentlichen arbeitete Tessenow klare und nüchterne Formen heraus. Tessenow prägte 1930 den Satz „Das Einfache ist nicht immer das Beste; aber das Beste ist immer einfach“[vi]. Das „Einfache“ ist dabei nicht mit dem Primitiven gleichzusetzen – ganz im Gegenteil. Denn die Verwirklichung des Einfachen ist mitunter sehr komplex.
Klaus Osterwold schreibt zum Wirken der Stuttgarter Schule: „Die führenden Architekten des deutschen Traditionalismus – Paul Schmitthenner, Paul Bonatz, Heinrich Tessenow – erreichen mit Baukörpern, die sympathischer Zeitlosigkeit verpflichtet sind, unterstützt von überlegter Bepflanzung, überzeugenden Einklang mit der landschaftlichen Situation, gelegentlich deren Steigerung“ [vii].
Eine gesellschaftspolitische Relevanz erhält die Reformarchitektur im so genannten „Heimatschutz“, der den romantischen Versuch im frühen 20. Jahrhundert bezeichnet, althergebrachte Stilmittel in die bauliche Moderne einfließen zu lassen. Insbesondere in den nach dem Ersten Weltkrieg zerstörten Ostgebieten sollte der „Heimatschutzstil“ Anwendung finden und später einen Teil des Wohnbauprogrammes im Nationalsozialismus kennzeichnen.

Den Vertretern des Heimatschutzstils wurde später angelastet, im Nationalsozialismus gestalterisch gewirkt zu haben. Tatsächlich haben sich allerdings auch Bauhaus-Vertreter um öffentliche Aufträge bemüht[viii]. Gerade im Industriebau schlägt sich die Avantgarde im Nationalsozialismus durch. Und selbst avantgardistische Architekten wie Mies van der Rohe bemühten sich um Bauaufträge.
Bei staatlichen Bauten war im Nationalsozialismus der Neoklassizismus als monumentalisierte Form prägend. Heinrich Tessenow, der als Lehrer Albert Speers galt, zeigte sich von den „Eindruck“ schindenden Bauwerken im Dritten Reich wenig begeistert und spielte im nationalsozialistischen Staat auch keine Rolle. Kultstätten und Ordensburgen wurden im Nationalsozialismus schließlich archaisch in Form der Neo-Romanik gebaut – die Romanik war jener Stil, den die germanischen Völker, die in Italien nach dem Zerfall des Römischen Reiches einfielen, mitgeprägt hatten. Tatsächlich wurde der Stil spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau von Denkmälern verwendet.
Erst im Wohnbau sollte die Reformarchitektur weitgehend Anwendung finden, wenngleich der Stil alles andere als einheitlich war und selbst im Nationalsozialismus teilweise belächelt wurde. Das Regime selbst strebte vielmehr eine Monumentalkunst an.
Gerd de Bruyn untermauert in Bezug auf den führenden Kopf der Stuttgarter Schule, Paul Schmitthenner: „Der springende Punkt ist: Schmitthenners faktische Modernisierung des Bauens wurde nicht Gegenstand des politischen Handelns“ im Dritten Reich. Seine Ideen fanden „keinen Eingang in die Building Codes der Blut-und-Boden-Ideologie“[ix].
Dort, wo Paul Schmitthenner im Dritten Reich etwa zu Bauaufträgen kam – offizielle Bauaufträge durch die Partei erhielt er nicht[x] –, wurden Auflagen gestellt, die dem Wesen seines Bauens widersprachen.
Der französische Architekt Jean-Louis Cohen erkennt im Nationalsozialismus die politisch-bauliche Monumentalität als eine in die Kunst übersetzte Totalität als das prägende Moment[xi]. In Bezug auf den Architekten Friedrich Tamms, der im Nationalsozialismus wesentlich wirkte und der die Flaktürme in Wien, Hamburg und Berlin burgähnlich konzipierte, entsprang die architektonische Gestaltung der nachfolgenden (durch Cohen) untermauerten Haltung: „Monumentalität ist nicht Sache der Natur; Monumentalität ist Menschenwerk“[xii]. Dieses Prinzip ist der Reformarchitektur der Stuttgarter Schule völlig fremd.
Friedrich Tamms deklarierte die Monumentalität als „das harte Gesetz der Baukunst“[xiii]. Monumentalität zeichne sich aus durch: „Großen Maßstab, Zeitlosigkeit, Dauerhaftigkeit, Masse, Klassik und Einfachheit“.
Gegenüber der Reformarchitektur, deren Interesse sich auf gewachsene zeitgemäße Formen bezog, vollzog sich im Sinne der Monumentalkunst des Regimes eine Übertreibung, die nur im Kontext eines totalitären Staatswesens nachvollziehbar ist.
Es ist folglich längst an der Zeit, die Stuttgarter Schule zu rehabilitieren und als „andere“ Moderne anzuerkennen. Vielleicht auch als „bessere“ Moderne – aber das liegt im Auge des Betrachters. Auf jeden Fall als eine Vorlage und Option im zeitgenössischen Bauen.

Literatur:
[i] Blomeyer, Gerald R. & Tietze, Barbara: „In Opposition zur Moderne – Aktuelle Positionen in der Architektur“, Vieweg & Sohn Verlag, Braunschweig 1980
[ii] Müller-Menckens, Gerhard: „Schönheit ruht in der Ordnung – Paul Schmitthenner zum 100. Geburtstag – Ein Gedenkbuch“, Wolfdruck Verlag, Bremen 1984
[iii] Müller-Menckens, Gerhard: „Schönheit ruht in der Ordnung – Paul Schmitthenner zum 100. Geburtstag – Ein Gedenkbuch“, Wolfdruck Verlag, Bremen 1984
[iv] Schmitthenner, Paul: „Gebaute Form. Variationen über ein Thema mit 60 Zeichnungen im Faksimile“, Verlag Alexander Koch, Leinfelden-Echterdingen 1984
[v] Ostendorf, Friedrich: „Sechs Bücher vom Bauen“, Ernst & Sohn, Berlin 1914
[vi] Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, „Denkmalpflege in Niederösterreich – Einfach. Erhaltenswert“, Band 57, St. Pölten 2017
[vii] Osterwold, Klaus: „Natur und Bauen“, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1977
[viii] Lampugnani, Vittorio Magnago: „Moderne Architektur in Deutschland 1900 Bis 1950 – Reform Und Tradition“, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 1993
[ix] De Bruyn, Gerd: „Theorie der modernen Architektur: Programmatische Texte“, skript Verlag, Neuss 2017
[x] Lampugnani, Vittorio Magnago: „Weder rein noch reaktionär“, Die Zeit, Hamburg 1984
[xi] Cohen, Jean-Louis: „Das Monumentale: latent oder offenkundig“ in „Moderne Architektur in Deutschland – 1900 bis 2000, Macht und Monument“, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1998
[xii] Cohen, Jean-Louis: „Das Monumentale: latent oder offenkundig“ in „Moderne Architektur in Deutschland – 1900 bis 2000, Macht und Monument“, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1998
[xiii] Frank, Hartmut: „Monument und Moderne“ in „Moderne Architektur in Deutschland – 1900 bis 2000, Macht und Monument“, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1998
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