Vielleicht bewegt die kontrastreiche, teilweise karge, dann aber auch milde alpine Gegebenheit der Schweiz zum intensiven Denken an. Vielleicht ist es aber auch der Außenseiter-Status der Schweiz als „Insel“ im vereinigten Europa, der sich mit Allgemeinplätzen nicht hingibt und die eigene Existenz ständig neu und intensiv hinterfragt.
Dass neben Peter Zumthor und Valerio Olgiati mit Gion Caminada gleich ein weiterer Schweizer Architekt das internationale Echo auf sich lenkt, mag mit diesen Gegebenheiten, vielleicht aber auch nur mit individuellen Eigenschaften zusammen hängen. Wer weiß. Auf jeden Fall ist das Echo bei Caminada weitaus bodenständiger als bei Olgiati und Zumthor, die auf der ganz großen Bühne wirken.
Beim Bauen geht es – im Kontrast zur Bauhaus-Moderne und ihrer abstrakten, gegenstandslosen Kunst – nicht um künstlerische Selbstverwirklichung, sondern um einen konkreten, materiellen Gebrauchsgegenstand, der dem Wohnen, also einer elementaren Gegebenheit in unserem Leben, dient und in dem sich alle Höhen und Tiefen dieses Lebens abspielen. Es geht um das Leben und nicht um reine Kunst. Die Baukunst ist dann eine Steigerungsform, aber keine isolierte Angelegenheit.
Gion Caminada wird zwar mit einem imaginären „Bauhaus für die Alpen“ in Zusammenhang gebracht. Treffender wäre allerdings der Begriff „Gegen-Bauhaus“, denn abseits einer Glorifizierung der Bauhaus-Moderne waren die Vorzeichen gegensätzlich ausgerichtet.
Zum Leben, das sich im Raum niederschlägt, hält der Schweizer Architekt Gion Caminada fest: „Erfahrung muss ich machen, vertiefen, zu Formen ursprünglicher Erfahrung kommen. Erfahrung machen ist Leben und das hat auch mit Erfahrung des Endes zu tun, von dem her das Leben erst seinen besonderen Wert, seine Einzigartigkeit gewinnt – es ist eben nicht unendlich, beliebig verfügbar, immer abrufbar“ [1].
Und weiter: „Es geht um das Leben, gar nicht ums Bauen. Um sich am Leben spüren. Intensität kann ich mir nur so vorstellen“.
In Differenz zu einem heutigen modernen Bauen, das sich in explizitem Bezug zur Bauhaus-Moderne bewusst vom Ort abkapselt und überall weltweit die gleichen weißen Kuben zu bauen versucht, spielt der Ort bei Caminada eine herausragende Rolle.
Das Problem darin ist: Indem wir bauen, wollen wir uns gerade mit dem Ort und mit dem Boden verbinden. Wir bauen kein Automobil. Folglich kann es auch kaum sinnhaft sein, die Prinzipien der industriellen Fertigung von Automobilen auf das Bauen auszulegen.
Caminada vollzieht die tiefer reichende Verbindung mit dem Ort über das Material und die tradierte Anwendung des Materials. Das ist weitaus komplexer und schwieriger als eine heute festgestellte Post-Materialität, die sich kaum über die konstruktiven Zusammenhänge schert. Und dann kommen eben im zeitgemäßen Kontext altbewährte Methoden wie der Strickbau, das Bauen mit dem elementaren Werkstoffen Holz und Stein sowie Neuinterpretation der eigenen Geschichte zur Anwendung.
Caminada wirkt dabei im Schweizer Ort Vrin in Graubünden, also im eigenen Heimatort. Dort entwickelt er das Gegebene weiter und unterstreicht damit, dass darin ein Erfolgsgeheimnis kleinstrukturierter ländlicher Gebiete besteht, die andernorts dem Aussterben ausgesetzt sind.
„Das Material hat immer mit dem Ort zu tun. Wir arbeiten mit Materialien, die in unmittelbarer Nähe vorkommen und die Handwerker verarbeiten können. Da entstehen Beziehungen, Beziehungen zu den Menschen wie auch zu den Dingen. Da tut sich was! Die Materialwahl ist eine kulturelle Verpflichtung und hat für den Ort ökologische wie ökonomische Konsequenzen“ findet Caminada [1]. Und hat recht.
Literatur:
[1] Gion A. Caminada: „Unterwegs zum Bauen – Ein Gespräch über Architektur mit Florian Aicher“, Birkhäuser Verlag, Basel 2018