Konventionelles Bauen geht so: Der Bauherr sucht sich einen Architekten. Der Architekt plant. Der Architekt sucht sich einen Tragwerksplaner am Markt. Der Tragwerksplaner versucht, die architektonische Idee in ein Tragwerk zu übersetzen, das tragfähig, stabil und dauerhaft ist. Dieses Unterfangen gelingt nicht oder nicht sofort. Konflikte und gegenseitige Anpassungen sind vorprogrammiert. Eine Seite gibt schließlich nach. Am Ende sind architektonische Idee und Tragwerk zwei verschiedene Dinge. Das Tragwerk bleibt auch meistens im Verborgenen. Der Rest ist „Design“ und Kulisse. Kann „schön“ sein, ist aber dann vielfach nicht „echt“.
Wenn man dem römischen Baumeister Vitruv glaubt, dann müsste das Bauwerk, um alle seine Anforderungen zu erfüllen, eigentlich die folgenden Eigenschaften haben: Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit). Diese Eigenschaften sind allerdings im Idealfall nicht aufgesetzt, sondern entspringen einer gemeinsamen Idee. Um ein solches Bauwerk zu planen, müssten Architekten und Bauingenieure sowie Fachplaner am Tag Null bereits gemeinsam eine Idee entwickeln und interdisziplinär und integral erarbeiten. BIM und Digitalisierung sind vielleicht technische Stützen, das Wesentliche ist aber eine Kultur der Zusammenarbeit sowie ein ästhetisches Bewusstsein für das bauliche Endprodukt. Womit wir beim Bauingenieur Fritz Leonhardt wären.
Brückenbauer in umwälzender Zeit
Wer sich mit der Vita von Fritz Leonhardt befasst, der 1909 in Stuttgart geboren war, entdeckt ein Leben mit zahlreichen interessanten Facetten. Nach seinem Studium in Stuttgart, wo Leonhardt in der Akademischen Verbindung Vitruvia Stuttgart aktiv war, nahm dieser an einem Auslandsstudienprogramm in den Vereinigten Staaten teil und entwickelte Faszination sowie tiefergehendes Interesse für den Brückenbau, besonders für die amerikanischen Hängebrücken. Fritz Leonhardt erkannte mit Blick auf den amerikanischen Brückenbau, für welchen der Schweizer Bauingenieur Othmar Amann wesentlich zeicnete, dass Innovation darin besteht, das Bestehende durch neue Ansätze zu verbessern: „Bei jeder Teilaufgabe wird zunächst studiert, wie sie bisher gelöst wurde. Dann wird überlegt, ob eine bessere Lösung möglich ist oder ob die Annahmen genügend abgesichert sind. Wenn Neues gewagt wird, dann muss dies durch Versuche erprobt und zur Reife gebracht werden“ [1].
Durch das nationalsozialistische Bauprogramm sollte Leonhardt dann allerdings Perspektiven in Deutschland finden und wesentlich im Brückenbau sowie im Autobahnbau wirken. 1939 gründete Leonhardt sein Ingenieurbüro, das auch heute noch unter dem Namen „Leonhardt, Andrä und Partner“ besteht. Im Kriegseinsatz in Estland im Rahmen des Raffineriebauprogramms der Organisation Todt befasste sich Leonhardt erstmals mit Spannbeton [1].
Diese Technologie, also den Beton durch Spannglieder aus Stahl vorzuspannen, und damit effiziente und schlanke Tragwerke zu konzipieren, kam Fritz Leonhardt in der Nachkriegszeit zugute. Die Baumaterialien waren knapp und die wirtschaftlichen Bedingungen für Deutschland restriktiv. Folglich ging es darum, aus diesem Mangel heraus besonders innovativ zu wirken. Fritz Leonhardt war maßgeblich an weltweiten Brückenbauprojekten beteiligt, baute den Stuttgarter Fernsehturm (im Bild), befasste sich mit der Verankerung von Gründungen beim Brückenbau, entwickelte den Betonbau und den Spannbetonbau weiter und plante die Tragwerke für das Münchner Olympiastadion. Zu jener Zeit war Jörg Schlaich sein Mitarbeiter.
Betonbauer Fritz Leonhardt
Wesentlich für den heutigen Betonbau waren die Forschungsprojekte Fritz Leonhardts. Von 1957 bis 1974 war Leonhardt Professor für Massivbau an der Technischen Hochschule Stuttgart und von 1967 bis 1969 Rektor. In diese Zeit fallen intensive Laborversuche am Beton, um die Kraftableitung, die Spannungsverhältnisse, den notwendigen Verlauf der Bewehrung sowie konstruktive Grundsätze zu erforschen. Die Buchreihe „Vorlesungen über Massivbau“ ist bis heute hin „das“ Standardwerk.
Fritz Leonhardt kultivierte in Stuttgart eine besonders innovative Schule des Ingenieurwesens. Man muss dazu auch wissen, dass die so genannte „Stuttgarter Schule“ der Architektur ein konservatives Pendent zur avantgardistischen Bauhaus-Bewegung war. Die Formen und die ästhetischen Ideen waren zwar an die Tradition angelehnt, die Technologien waren aber weitaus innovativer als jene des Bauhaus, meint Gerd de Bruyn.
In diesem Ambiente – und Fritz Leonhardt hatte seine Kontakte zur Stuttgarter Schule, besonders zu Paul Bonatz [2] -, sollte Fritz Leonhardt eine Stuttgarter Ingenieurschule begründen. Wesentlich für diese Ingenieurschule in Stuttgart war, dass massiv materialschonend gebaut werden sollte, was eine Belastung des Materials bis an die Grenzen bedingt. Das Material unter höchster Spannung mit einer Form, die sich aktiv an die Lasten anpasst – vereint im Begriff „Leichtbau“ -, war und ist das Primat dieses Bauens. Und vielleicht auch des Bauens im Allgemeinen. Betonieren, große Massen verbauen, kurzfristig billig, aber langfristig teuer und ressourcenverschwendend bauen, ist heute nicht mehr zeitgemäß – das wusste Fritz Leonhardt schon damals.
Mit Jörg Schlaich wirkte ein herausragender Bauingenieur im Büro bei Fritz Leonhardt. Bei Jörg Schlaich wirkte wiederum Werner Sobek. Fritz Leonhardt, Jörg Schlaich und Werner Sobek – das Triumvirat der Stuttgarter Schule leuchtet weit über Stuttgart hinaus.
Ästhetik ist das Wesentliche!
Fritz Leonhardt – und später Jörg Schlaich und Werner Sobek – erkannten vor allem eines: Ästhetik ist kein Beiwerk, sondern vereint sich im guten Entwurf mit Funktion und Tragwerk. Damit kommt Vitruv zu seiner späten Genugtuung.
Funktion, Form und Konstruktion sind – so Leonhardt – kein Widerspruch im Bauen. Wenn Form, Funktion und Tragwerk ineinandergreifen und als eine untrennbare Einheit wirken, kann man von „Eigenschönheit“ sprechen.
Gemeinsam mit dem Architekten Paul Bonatz formuliert der Bauingenieur Fritz Leonhardt in diesem Sinne die Worte: „Schönheit liegt nicht im Beiwerk, sondern in der echten, sinnvollen und wahren Grundform, im Einfachen, im Weglassen und Vermeiden alles Willkürlichen, Zufälligen, Modischen. Modisches wird altmodisch und vergeht: Das Einfache, Wahre bleibt. Zum Schönen, zum Letzten, kommt das Werk aber nicht von selbst oder durch Zufall, sondern nur dann, wenn ein bewusster und geschulter Wille dorthin führt“ [2].
Und weiter: „Die gute schöne Form entsteht, wenn der Handwerks- oder Baumeister das Technische beherrscht und dazu mit Gefühl für die Harmonie der Verhältnisse, mit Schönheit und Ordnungssinn begabt ist. Die Pflege und Schulung dieses Gefühles, verbunden mit der von Gott so selten vergebenen schöpferischen Gestaltungskraft kann es dem Baumeister gelingen lassen, Schönheit oder monumentale Wirkung zu erzielen oder gar die Ausdruckskraft seiner Bauwerke so zu steigern, dass sie den Menschen in seinem Innersten ergreifen, ihn tief beeindrucken und anziehen“ .
Fritz Leonhardt erachtet im Einbeziehen der Natur eine Kategorie, die über die Schönheit des Bauwerks entscheidet: „Das höchste Maß an Schönheit finden wir immer in der Natur, in Pflanzen, Blumen, Tieren, Kristallen und rundum im weiten Kosmos in einer solchen Vielfalt der Formen und Farben, dass hier der Ansatz zur Analyse vor Ehrfurcht und Bewunderung schwerfallt. Bei genauerer Beschäftigung mit der Schönheit finden wir auch dort in vielen Fällen Regeln und Ordnungen, doch stets mit Ausnahmen. Die Schönheit der Natur ist andererseits ein reicher Quell für die seelischen Bedürfnisse des Menschen, für sein psychisches Wohlbefinden“ [3].
Als Maß für Schönheit gilt sodann die Ordnung, womit Leonhardt an Stringenz, Rhythmus und Harmonie des klassischen Bauens anknüpft und den baulichen Dekonstruktivismus der Moderne verwirft: „Ein gewisses Maß an Erregung durch ein überraschendes Element wird als angenehm empfunden, wenn benachbarte Elemente der Ordnung die Entspannung erleichtern. Wenn jedoch die Andersartigkeit überwiegt, wird der Orientierungsreflex überfordert und Missvergnügen bis Ablehnung tritt ein. Unordnung kann nicht schön sein“ [3].
Letztlich muss das gute Bauen sich immer an Vitruv halten: Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit) und zwar in einem integrativen Entwurf, der alle drei Eigenschaften vereint und erhöht. Das Tragwerk ist dann nichts Aufgesetztes mehr, sondern integrativer und gestaltender Teil des Ganzen. Bauen wird dann im Übrigen auch wesentlich billiger, wenn von Anfang an alle Disziplinen am Gesamterfolg wirken. Aber das ist eine andere Angelegenheit.
Literatur:
[1] Fritz Leonhardt: „Baumeister in einer umwälzenden Zeit – Erinnerungen“, Deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart 1984
[2] Paul Bonatz & Fritz Leonhardt: „Brücken“, Karl Robert Langewiesche Verlag, Königstein m Taurus 1951
[3] Fritz Leonhardt: „Zu den Grundfragen der Ästhetik bei Bauwerken“, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1984
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