Mit der Spätmoderne oder der High-Tech-Architektur findet die Idee der Moderne, die Form müsse an die neuesten technologischen Fortschritte angepasst werden, ihre Fortsetzung. Die Architektur wird insgesamt an die neuesten Erkenntnisse der Materialwissenschaften angepasst, die insbesondere beim Bau von Wolkenkratzer und Hochhäusern darauf aus ist, die Materialien bis an ihre Grenzen zu führen.
Ebenso vollzieht sich im 20. Jahrhundert die Tendenz in Richtung Dekonstruktivismus. Jean-Paul Sartre prägte in „Das Sein und das Nichts“ den Satz: „Der Mensch ist verantwortlich für das, was er ist“ und fasste diese Festlegung als radikale Verantwortung gegenüber der eigenen Lebensgestaltung und als „Befreiung“ des Menschen von seinen Zwängen auf. Der Existenzialismus arbeitet an der „Dekonstruktion des Menschen“[iv] durch Relativierung des Seins durch die Botschaft: „Es könnte auch anders sein“.
Weil für den Menschen jede kritische Distanz zu dem System, in dem er lebe, unmöglich sei, äußere sich der kritische Existenzialismus im Dekonstruktivismus. Das System wird dekonstruiert, indem die vermeintlichen „Probleme“ in den Strukturen lokalisiert und sichtbar gemacht werden. Die Kunst hat zunehmend den vermeintlichen „Zweck“, System- und Sozialkritik zu äußern, indem sie durch Unstetigkeiten, Verwerfungen und Stilbrüche die Reflexion anrege. Weil die Wirklichkeit, wie sie sich uns heute darstellt, in vielen Bereichen strukturell „falsch“ ist, obliegt es der Kunst, grundsätzliche Alternativen aufzuzeigen.
Der Dekonstruktivismus meint die „Dekonstruktion des Konstruierten“. Oder: Die Dekonstruktion des vermeintlich Konstruierten. Insgeheim ist in unserer modernen Welt ja alles konstruiert. Selbst die Naturwissenschaften haben der Dekonstruktion zu weichen.
Insgesamt ist dem Dekonstruktivismus eine postmaterialistische Haltung immanent. Die Materialgerechtigkeit, die in der Moderne zumindest theoretisch eine Rolle spielt, wird im architektonischen Entwurf relativiert. Es kommen vermehrt Materialien zum Einsatz, deren Ursprung und Essenz nicht mehr klar sind. Die Immaterialität ist erreicht.
Durch die Aufhebung der Tektonik, die den strukturellen Aufbau des Gebäudes kennzeichnet, und den fristlosen Ersatz durch die künstlerisch „freie“ Form sollte ein „tatsächlicher“ Funktionalismus möglich sein, der sich an vermeintliche menschliche Belange orientiert und nicht mehr länger durch Konstruktion und Formalismus begrenzt ist. Inwiefern dieser Funktionalismus aber nicht mehr Theatralik als alles andere ist, darf offen gefragt werden. Es ist für das moderne Bauen kennzeichnend, dass die Verständnislosigkeit zunimmt und dass sich das Bauwerk ohne ästhetische Doktrin nicht mehr von selbst erklärt.
Literatur:
[i] Knippers, Jan; Schmid, Ulrich; Speck, Thomas (Hrsgb.): „Bionisch bauen“, Birkhäuser Verlag, Basel 2019
[ii] Klotz, Heinrich: „Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960–1980“, Ausstellungskatalog des Deutschen Architekturmuseums, Prestel, München 1984
[iii] Weber, Stefan: „Der Wohnpark Alt-Erlaa im Kontext von sozialem Wohnbau und utopischer Architektur“, Universität Wien, Wien 2014
[iv] Radisch, Iris: „Genug dekonstruiert! – Das Café der Existenzialisten“, Die Zeit, 12.01.2017
[v] Moravánszky, Ákos: „Stoffwechsel – Materialverwandlung in der Architektur“, Birkhäuser, Basel 2018
[vi] Reidemeister, Johann Christoph: „Nachdenken über Einfachheit“, Neue Zürcher Zeitung, 28.12.2004
[vii] Weber, Christiane: „Fritz Leonhardt »Leichtbau – eine Forderung unserer Zeit. Anregungen für den Hoch- und Brückenbau« – Zur Einführung baukonstruktiver Prinzipien im Leichtbau in den 1930er- und 1940erJahren“, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe 2010
[viii] Bonatz, Paul & Leonhardt, Fritz: „Brücken“, Karl Robert Langewiesche Verlag, Königstein m Taurus 1951
[ix] Schlaich, Mike: „Eleganz“, Schlaich Bergermann Partner Internet-Präsenz, 08.01.2017
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