Sozialistische Architektur als gebaute revolutionäre Praxis

Die Architektur in Russland und in der Sowjetunion ist gewissermaßen ein Kosmos, der für die ganze Welt steht. Ohne die politischen Gegebenheiten ist dieses Bauen kaum vorstellbar. In Russland schwelt bereits im 19. Jahrhundert ein „nervöser“ ideologischer Konflikt zwischen Konservativen und Progressiven, den der Dichterfürst Fjodor Dostojewski in seinen zahlreichen Romanen zu den großen Fragen der damaligen und der heutigen Zeit auf den Punkt bringt.

Das wesentliche Moment ist der „Weltbürgerkrieg“, den die Sozialisten internationaler Ausrichtung in den Raum stellen und damit eine globale Revolution meinen, die sich unabhängig von nationalen Grenzen vollzieht. Es geht dabei um nicht weniger als um eine „neue Weltordung“. Und diese Weltordnung vollzieht sich unter anderem ästhetisch, ist Ästhetik doch immer das Sichtbarmachen eines inneren Geistes und einer inneren Haltung, heute nicht weniger als damals.

Walter Benjamin enttarnt den Faschismus sinngemäß als eine „Ästhetisierung der Politik“, die sich in der Folge auch in der Ästhetisierung des Krieges niederschlägt, während der Kommunismus mit einer „Politisierung der Kunst“ darauf antworten müsste [1]. Politik ist in ihrer radikalen Auslegung immer der Versuch, in das Weltgeschehen und in die Geschichte einzugreifen.

Auf sozialdemokratischer Seite stand der Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung, Ferdinand Lassalle, für einen sozialdemokratisch und genossenschaftlich organisierten Nationalstaat ein. Aus dieser sozialdemokratischen Idee und ihrem Menschen- und Gesellschaftsideal heraus entstanden in Wien die so genannten Gemeindebauten, um die Wohnungsnot unter den Arbeitern zu lindern und dabei abseits der Arbeit ausgewogene Lebensverhältnisse und Lebensqualität zu bieten.

Die Wiener Gemeindebauten, die raumplanerisch durchmischt sind, stehen auch heute noch für einen ganz besonderen Stolz der arbeitenden Klasse. In ihrer monumentalen und imposanten Ausführung und eingebettet in Grünanlagen, stehen diese Gemeindebauten für ein besonderes städtisches Selbstverständnis und für eine politische Gesinnung, die sich nicht nur dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern auch der „Schönheit“ der Arbeit verschreibt.

Auf der anderen Seite etablierte sich der Marxismus als revolutionäre Praxis mit einer bewusst internationalistischen Ausprägung und einem Historizismus, der an einen Sinn der Geschichte glaubt [2]: „Erst wenn der Klassencharakter zur Spaltung der Gesellschaft in einander gegenüberstehende, praktisch durch den Modus des Bürgerkrieges definierbare Klassenlager geführt hat, kann von einer objektiv revolutionären Lage in der Gesellschaft gesprochen werden“ [3] (Günter Rohrmoser). Das Proletariat sei – um die eigene Existenz zu begründen – dazu gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft aufzuheben. Darin steckt eine historische Zwangsläufigkeit und nach Karl Popper ein Historizismus, sowie auch eine grundsätzliche Unentspanntheit, die sich im ständigen politischen Aufbegehren äußert.

Als wesentlich zur Heranbildung einer revolutionären Kultur gilt in der marxistischen Weltauffassung die Heranbildung einer eigenen kulturellen Ordnung, die sich in der „proletarischen Kultur“ als Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt äußerte. Bei Antonio Gramsci ist es die „kulturelle Hegemonie“. Der russische Philosoph und Anhänger des Bolschewismus, Alexander Bogdanow alias Maximow, bemühte sich demgemäß um die Etablierung einer proletarischen Kultur als Gegenentwurf zur Bourgeoisie. Bogdanows Ziel war es, die Arbeiterbewegung „gesellschaftlich, kulturell und moralisch zu erneuern und für Führungsaufgaben zu befähigen“ [4]. Der Bolschewismus bezeichnet die revolutionäre und radikale Auslegung des Marxismus.

Der Bolschewist Lenin stellte sich dieser Tendenz später massiv entgegen und befürwortete die Übernahme der bürgerlichen Formen. Darin besteht vor allem auch eine realpolitische Auslegung zur besseren „Vermarktung“ der sozialistischen Idee. Lenin war es daran gelegen, die kulturellen Errungenschaften der bürgerlichen Kultur durchaus mitzunehmen. Im Gegensatz zur gemäßigten Richtung standen Lenin und der Bolschewismus für eine Kaderpartei, in welcher Berufsrevolutionäre die Revolution, die in den Massen nicht herangereift sei, herbeiführen sollten.

Vielleicht erklärt sich in diesen Alternativen und Zusammenhängen auch die Verschiedenartigkeit sozialistischer Ästhetik. Grundsätzlich standen sich drei Alternativen gegenüber: Konstruktivisten, Rationalisten und Klassizisten.

Stalin stand später für einen sozialistischen Realismus, welcher eher an der Volkskunst ausgerichtet war und von der proletarischen Abstraktion abwich.

Leo Trotzki, der sich als Gegenspieler Stalins etablierte und im Gegensatz zu Stalin keinen Sozialismus im Staate, sondern einen internationalen Sozialismus anfachen wollte, stellte sich ebenso gegen die proletarische Kultur, vertrat dieser nämlich die Meinung, das Proletariat solle an die höchsten kulturellen Leistungen des Bürgertums anbinden. Kennzeichnend für den so genannten „Trotzkismus“ war unter anderem auch der „Entrismus“, also das subversive Unterwandern von andersartigen Organisationen.

Die Entwicklung vollzog sich damit recht widersprüchlich. Während in Russland nach und nach von der sozialistischen Ästhetik abgegangen und bewusst klassische Formen angestrebt wurden, sollte die Ästhetik sozialistischer Prägung gerade in der kapitalistischen Formensprache ihren Anklang finden.

Und während die DDR unter bewusstem Rückgriff auf die Volkskunst und Volkskultur einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ anstrebte, konnte man in der BRD gar nicht schnell genug das historische Erbe niederreißen, um es für Straßen, Verkehrsflächen und modernistische Einheitskunst weichen zu lassen. Freilich, heute ist der vermeintliche „Modernismus“ ein Fall für die Entsorgung, während das klassische Bauen immer zeitlos bleibt.

Der Architekt Werner Nehls schreibt: „Ein Paradox kommt hinzu. Während dieser „Bewegung“ im Ursprungsland von Lenin und Stalin der Boden entzogen wurde, griff der kapitalistische Klassenfeind im Westen bei Kunst, Kultur und Architektur enthusiastisch zu. Im Zuge der Weimarer Republik entdeckten europäische Künstler und Architekten – vor allem die des Bauhauses – die sowjetischen Revolutionskünstler und -theoretiker. Die russischen Vorbilder prägten die „Bauhaus-Idee“ in Pädagogik und Gestaltung fundamentaler und nachhaltiger als alles andere. Während sich die Pioniere anfangs offen zur sowjetischen Revolution bekannten, schwiegen sie über ihre Quellen eisern etwa ab 1923“ [4].

Ästhetisch sieht Werner Nehls [4] die folgenden Ursprünge im Bauen der Moderne: Erstens, die gegenstandslose Kunst. Gemeint ist nicht die Gegenstandslosigkeit, denn es kommen geometrische Formen zwar vor, es besteht allerdings kein Zugang mehr zu Gegenständen der Natur. Zweitens, der Konstruktivismus, womit die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerkes gemeint ist, das für sich und ohne die äußere Welt, so wie eine Maschine, auskommt. Drittens und letztens, der Produktionismus. Darunter versteht sich das Formen der Gegenstände nach dem Kriterium der Zweckmäßigkeit, ähnlich der industriellen Produktion. Man könnte vielleicht auch einen Materialismus unterstellen, auf jeden Fall allerdings ein deutliches Abweichen von einer ästhetischen Haltung.

Prinzipiell ist Architektur im Gegensatz zur bildenden Kunst niemals eine reine Abstraktion, sondern hat funktionale, technische und auch baukulturelle bis ästhetische Aufgaben zu erfüllen. Bestenfalls.

Der sowjetische Konstruktivismus beeinflusste mit seinem Vorwärtsdrang, dem radikalen Funktionalismus und Technizismus die europäische Avantgarde und auch das Bauhaus wesentlich.

Und was macht den Reiz marxistischer Ästhetik bis heute hin aus? Wahrscheinlich das revolutionäre Moment. Tief in unseren Herzen möchten wir doch alle ein kleines bisschen Revolutionäre sein. Manche wirklich und andere nur oberflächlich. Die meisten nur rein formell. Im Grunde dominiert immer nur der „Mainstream“ und der Weg der geringsten Widerstände. Sozialismus ist dann so etwas, wie die Gewissenserleichterung in einer kapitalistischen Welt.

Weiterführende Artikel:

102 Jahre Bauhaus

Le Corbusier und die Ingenieure

Persönlichkeiten: Mies van der Rohe

Literatur:

[1] Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie“, Suhrkamp Verlag, Berlin 1996

[2] Karl Popper: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – Band 1 und 2“, Mohr Siebeck, Tübingen 2003

[3] Günter Rohrmoser: „Das Elend der Kritischen Theorie“, Rombach Verlag, Freiburg 1970

[4] Werner Nehls: „Bauhaus und Marxismus“, Utz Verlag, München 2011

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