Die Sommerfrische als bürgerliches Kulturkonzept
Während der Adel sich immer schon seine Winter- und seine Sommerresidenzen einzurichten wusste, versuchte sich das aufstrebende Bürgertum im 19. Jahrhundert ähnliche Konstellationen zu verwirklichen, ja den Adel in Habitus zu imitieren und – vielleicht auch noch – zu übertrumpfen. In jene Zeiten fällt die Erschließung der Alpen durch den Fremdenverkehr sowie der Siegeszug der Eisenbahn als massentaugliches Verkehrsmittel. Wer es sich leisten konnte, entging durch die „Sommerfrische“ der glühenden Hitze.
Zahlreiche Fremdenverkehrsorte sind in jener Zeit der „Eroberung“ der Alpen aufgestrebt, haben andererseits aber auch ihr eigentliches Wesen eingebüßt. Das mondäne Bürgertum verlangte nämlich jenen Komfort, den es aus den Städten gewohnt war, auch in den Urlaubsdestinationen. Darüber hinaus hatten die Sommerfrische-Orte jene ästhetischen „Erwartungen“, von denen der Bürger in Bezug auf das Land träumte; Inszenierungen vorprogrammiert.
Wolfgang Kos schreibt mit Blick auf die Anfänge der touristischen Kulturlandschaft im Historismus: „Eine Kulturlandschaft, könnte man sagen, ist dann intakt, wenn in ihr Spannungsverhältnisse erlebbar bleiben“ und folglich: „Der Tourist, ob Schaulust oder angenehme Entspannung suchend, verhält sich gegenüber der Natur wie der Kunde in einem Geschäft. Sein empfindsames Schauen ist, anders als der Blick des Bauern, Jägers oder Straßenarbeiters, dem Schwanken der Ideologien und Moden unterworfen“ [1]. Angesprochen ist damit auch ein touristisches Problem, das bis in unsere Zeit anhält. Der Umgang mit Natur und Landschaft ist nicht mehr utilitaristisch, sondern nur ästhetisierend. Verloren geht damit das reizvolle Spannungsverhältnis des „Echten“.
Kos erachtet es in der Folge als wesentlich, „dass die Spannungen, die touristische Landschaften geprägt haben, herausgearbeitet und lesbar gemacht werden. Dem Touristen im Erholungsort wird von seinen Vorgängern und ihren Empfindungen erzählt. Dem geschichtslosen Bild einer ewig schönen Natur wird ein Begriff von Landschaft gegenübergestellt, der ständig Uminterpretationen unterworfen ist. Je rascher die Lebenswelt sich verändert, umso größer wird das Bedürfnis nach Räumen der Erinnerung“.
Der ländliche Raum wurde durch das Konzept der „Sommerfrische“ und des aufstrebenden Wintertourismus zunehmend zur „Projektion bürgerlicher Kulturbeobachtung“ [2] und folglich ein „ästhetisierter Raum“, der einer moralischen Kontextualisierung vom vermeintlich „wahren“ Leben entsprach.
Eine Frage der Geschwindigkeiten

Für den Tourismus heute ist das Konzept der „Erreichbarkeit“ zentral und wesentlich. Die so genannte „Erreichbarkeit“ hat jedoch auch ihre Schattenseiten. Erstens macht die Erreichbarkeit eine gebaute Infrastruktur erforderlich, die die touristische Idylle durch Zufahrt, Abfahrt, Verbauung, Zersiedlung, Verparkung und Verkehrs- und Umweltbelastung arg in Frage stellt. Bekanntestes Beispiel ist – im Negativen – der so genante Pragser „Wildsee“.
Darüber hinaus stellt sich noch ein zweites Problem ein, das mit der zunehmenden „Erreichbarkeit“ zusammen hängt. Die Gäste sind zwar schnell vor Ort, aber auch schnell wieder weg. In einem Verkehrssystem, das auf größtmögliche Erreichbarkeit ausgelegt ist, wird der Konkurrenzkampf zwischen den Destinationen größer und spielen sich in einem größeren Radius ab. Südtirol oder Mallorca – letztlich dann alles nur noch eine Frage des Preiskampfes [3]. Diese Spirale kann man weiter drehen – oder bewusst aussteigen. Das Schlagwort von der „Qualität“ wird dann entscheidend, sowie die Destination, die einen landschaftlichen, ästhetischen, kulturellen und historischen Mehrwert bietet – und nicht nur die schnellste Erreichbarkeit und die billigsten Preise.
Was die Geschwindigkeiten sowie einen Tourismus anbelangt, welcher die Kleinteiligkeit und die Vielfältigkeit einer Landschaft schätzt – und sich nicht mit Fassaden begnügt – ist ohnehin der Fußgänger das entscheidende Maß. Umgebungen für Fußgänger konzipieren – was alle historischen Altstädte mit ihrer Fülle an Eindrücken kennzeichnet – bringt die höchste Wertschöpfung mit sich [3]. Und zwar nicht nur ökonomisch, sondern durchaus auch ästhetisch.
Dazu schreibt der dänische Stadtplaner Jan Gehl: „Wenn eine Stadt voller Leben sein soll, braucht sie vor allem kurze, direkte und logische angelegte Wege, maßvolle Dimensionen und eine klare Hierarchie von kleinen und großen öffentlichen Räumen (…) Lebendige Städte erfordern kompakte städtebauliche Strukturen, eine maßvolle Bevölkerungsdichte, annehmbare kurze Wege für Fußgänger und Radfahrer sowie einladende öffentliche Flächen. Bebauungsdichte (Quantität) muss mit gut gestalteten Stadträumen (Qualität) kombiniert werden“ [5].
Dirk Schümer meint dass es nicht die Umgebungen sind, die die schnellste Erreichbarkeit sind, die sich als besonders „wertvoll“ erweisen, sondern im Gegenzug, jene Umgebungen, die „dem Durchgangsverkehr einen natürlichen Widerstand“ bieten durch historische Häuser, Ornamente und Zeichen, Inschriften an Fachwerkshäusern, Karyatiden an historistischen Mietshäusern, wohingegen die moderne Architektur vielfach – so Schümer – eine „Ödnis“ biete [4]. Hinzu kommen im historischen Umfeld: Die vielen Schichten, die die Geschichte hinterlässt, die Anklänge an die Hochkultur, verwachsene und verwilderte Wege, eine Unsumme an Bedeutungsebenen, die wir erschließen wollen.
Welcher Tourismus heute?

Grundsätzlich gilt immer das, was der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger auf den Punkt gebracht hat: Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet. Vielleicht oder sicher gibt es in Bezug auf den Tourismus jenen Punkt, an dem die Angelegenheit kippt; an dem es ein „zu viel“ an Tourismus und ein „zu wenig“ an authentischer, erlebbarer Kulturlandschaft wird.
Wir streben keine touristischen Inszenierungen an, kein „Disney-Land“ in den Alpen, auch keine „Potemkinschen“ Dörfer, sondern wollen – grundsätzlich -, dass der Tourismus nicht alles dominiert, sondern ein Zweig unter vielen anderen ist und sich dabei funktionierender Kreisläufe bedient, diese sichtbar, erlebbar und genießbar macht.
Der Wiener Architekturkritiker Walter Chramosta stellt in Bezug auf die alpine Fremdenverkehrsarchitektur richtig fest: „Erst ein kulturell und nicht ein ökonomisch determinierter Gebrauch der Landschaft wird Bauten entstehen lassen, die auch langfristigen Wertmaßstäben genügen“ und unterstreicht damit ein allgemeines Gestaltungsprinzip. „Ein Leben in einem alle Erwerbsgrundlagen einer Region verarbeitenden Bauwerk; dieses geistige Fundament einer guten Fremdenverkehrsarchitektur muss alle Aspekte kollektiven Gedächtnisses, vor allem immaterieller Art, beinhalten“ [1].
Ein Landschaftsbild, nur auf touristischen Ertrag ausgerichtet und nicht alle Erwerbsgrundlagen erfassen, führt zu Verzerrung, gekünstelter Inszenierung und Entfremdung.
Chramosta fordert weiter in Bezug auf das geistige Fundament alpiner Baukultur: „Ein solches Fundament besteht aus den Essenzen, die Geschichte, Geographie, Volkskunde und Architekturtheorie bei der Untersuchung des Bauplatzes gewinnen können. Dem künstlerischen Akt des Entwerfens eine wissenschaftliche Basis zu geben, aus den Wurzeln das Konzept zu destillieren, muss das Ziel sein, wenn man in der alpinen Bau-Land-Ausschlachtung der Alpenregion nicht mit einem Konsens über den kulturellen Gebrauch der Landschaft zur Deckung gebracht wird, geht die Richtung der Dorfentwicklung weiter auf Kollision und schleichende Selbstvergiftung (…) Bauten für den Fremdenverkehr müssen die typologischen, topographischen und klimatischen Axiome des Ortes aufnehmen“ [1]. Wesentlich seien „über das Physische hinausreichende Ansprüche an die Lebenswelt“.
Die Lebenswelt ist alles, die Inszenierung nichts. Vielleicht – oder sicher – entsteht heute abseits der Touristenhochburgen, abseits der ausgelatschten Wege und abseits inszeniertes „instagramtauglicher“ Fotographien eine Suche nach dem Echten, dem Tiefen, dem Eigentlichen, dem Dramatischen, dem Überwältigenden. Abseits der ausgelutschtetn Floskeln von wegen „Authentizität“, „Regionalität“ und „Ursprünglichkeit“, die nicht auf echten Wurzeln gründen.
Ziemlich sicher sind jene gesuchten Orte gerade dort zu finden, wo man von vermeintlicher „touristischer Unterentwicklung“ spricht. Im Südtiroler Unterland zum Beispiel. Vielleicht – oder ziemlich sicher – gilt es sich, baulich auf jene Zeit danach vorzubereiten und Inseln des „Echten“ entstehen zu lassen. Dazu sind Tiefgang, Kultur und Geschichte unumgänglich.
Verwendete Literatur:
[1] Amt der Niederösterreichischen Landesregierung (Hrsgb.), „Sommerfrische“, Band 8, Wien 1991
[2] Hans-Christian Lippmann: „Sommerfrische als Symbol- und Erlebnisraum bürgerlichen Lebensstils – Zur gesellschaftlichen Konstruktion touristischer ländlicher Räume“, Technische Universität Berlin, Berlin 2015
[3] Michael Demanega: „Das Verkehrswertmodell als Grundlage für eine intelligente und transparente Verkehrsplanung am Beispiel Südtirols“, Technische Universität Wien 2017 (Link)
[4] Dirk Schümer: „Zu Fuß – Eine kurze Geschichte des Wanderns“, Piper Verlag, München 2010
[5] Jan Gehl: „Städte für Menschen“, Jovis Verlag, Berlin 2015
Weiterführende Beiträge:
Über schnelle Mobilität und aussterbende Dörfer
Stichworte: Tourismus in Südtirol, Massentourismus, Overtourism, Fremdenverkehr, nachhaltiger Tourismus, Nachhaltigkeit, nachhaltige Entwicklung, sanfter Tourismus.