Was Baukultur ist

Von „Baukultur“ ist – wenn überhaupt – eher bei denkmalgeschützer oder zumindest erhaltenswerter Bausubstanz die Rede. Erschwerend kommt zu dem Begriff hinzu, dass der Denkmalschutz auf Bauherrenseite vielfach eher als eine Last aufgefasst wird, weil die Bestimmungen auf Denkmalschutz-Seite die zulässigen Aktivitäten einschränken. In einer Zeit, in der – trotz Individualisierung und Liberalisierung – jeder nach dem Nicht-Reproduzierbaren, nach dem Besonderen und nach dem Einmaligen sucht, sollte allerdings der Paradigmenwechsel längst gesetzt sein und historische Bausubstanz mit einer vielleicht jahrhundertealten Geschichte als Wert an sich erfasst werden.

Zur Erfassung des Wertes von Baukultur stelle man sich eine Kulturnation wie Italien ohne Baukunst vor. Das „Besondere“ an der Baukultur ist ein nicht zu unterschätzender materieller Wert in einer nach dem Besonderen suchenden globalen Gesellschaft, wozu soziale Medien in besonderem Maße beitragen. Der Wert von Baukultur ist folglich stark steigend: Jeder sucht das einzigartige Erlebnis!

Der Begriff der „Baukultur“ ist allerdings längst nicht nur auf die historische Bausubstanz zu projizieren. „Kultur“ bezeichnet vom Lateinischen „colere“ kommend im Gegensatz zur Natur das menschlich Gepflegte, Bebaute, Ausgeformte. Hinzu kommt, dass selbst die uns umgebende „Natur“ keine eigentliche Natur mehr ist, sondern eine kulturalisierte Natur.

Im Gegensatz zur „Baukunst“, die wir auf die bewusst künstlerisch gesetzten Bauwerke und auf die architektonischen Stilrichtungen beziehen, bezeichnet die „Baukultur“ alle baulichen Veredelungen durch menschliche Aktivität. Ob bewusst oder unbewusst. Inflationär könnte man sogar alle baulichen Aktivitäten als „Baukultur“ einordnen, was allerdings zu weit greifen würde.

Der Schweizer Architekt Stefan Cadosch erachtet Baukultur folgerichtig als eine menschliche Konstante: „Der Mensch strebt nach Kultur. Seine Bauwerke sollen zwar eine Funktion erfüllen, doch sobald das gelingt, erwacht sein Bedürfnis nach mehr. Es wird ihm immer ein Anliegen bleiben, einen kulturellen Fußabdruck zu hinterlassen“ [1].

Der Schweizer Bauingenieur Daniel Meyer unterstreicht diesen Ansatz: „Ich denke, dass uns dieser rein funktionalistische Zugang auf die Dauer nicht vorwärts bringen und letztendlich auch langweilen wird und dass wir wieder zu einem selbstbewussten und somit auch kultivierteren Denken finden werden“ [1].

Ähnliches unterstellt der Architekt und Stadtplaner Reiner Nagel wenn dieser die zeitliche Komponente sowie die Langfristigkeit von Baukultur in den Mittelpunkt stellt: „Baukultur in Form der gebauten Umwelt ist allgegenwärtig, prägt die Menschen und wird durch ihr alltägliches Handeln als Nutzer oder aktive Gestalter von Lebensräumen geformt. Baukultur ist eine wesentliche Grundlage, um eine als lebenswert empfundene Umwelt zu schaffen. Sie hat neben sozialen, ökologischen und ökonomischen Bezügen auch eine emotionale und ästhetische Dimension. Ihre Herstellung, Aneignung und Nutzung ist ein gesellschaftlicher Prozess, der auf einer breiten Verständigung über qualitative Werte und Ziele beruht. Baukultur steht für langfristigen Werterhalt bzw. Wertzuwachs bei Investitionen. Sie sorgt für Unverwechselbarkeit, schafft lokale, regionale und nationale Identitäten. Baukultur schafft gesellschaftlichen und ökonomischen Mehrwert – Baukultur ist eine Investition in die Zukunft“ [2].

Der herausragende Schweizer Brückenbauingenieur Christian Menn, dessen Brückenbauten mit technologischer Pionierwirkung bis heute hin faszinieren, plädiert – im Sinne von Vitruv – für Tragfähigkeit, Nützlichkeit und Schönheit beim Bauen und versteht Schönheit dabei keinesfalls als einen nur subjektiven Begriff: „Proportionen müssen stimmen, wenn es schön sein soll“ [3]. Gerade in einem vermeintlich rein technischen Umfeld, wie dem Brückenbau, ist Ästhetik von besonderer Bedeutung. Im Brückenbau ist das Gebaute reine Konstruktion. Es liegt aber am gestaltenden Bauingenieur, jene Konstruktion unter allen denkbaren auszuwählen, die auch ästhetische Bedürfnisse befriedigt. Neben Christian Menn hat der deutsche Bauingenieur Fritz Leonhardt auf technologischer und ästhetischer Seite Herausragendes geleistet.

In Anlehnung an Vitruv und an das von Christian Menn gesagte – in Anlehnung an Nützlichkeit, Stabilität und Schönheit – könnte man Baukultur als die Dreiheit von Funktionalität, Effizienz und Ästhetik bezeichnen, die sich in Beziehung zur Zeit darstellt. Damit ist Baukultur rein gar nichts, was sich auf Vergangenes beziehen würde, sondern eine kulturelle Konstante, die sich auch im Neubau durchziehen muss und unsere ästhetischen und kulturellen Bedürfnisse stillt. Gerade auch im 3. Jahrtausend.

Literatur:

[1] Espazium: „Bau­kul­tur gab frü­her we­ni­ger zu re­den – Zukunft der Schweizer Baukultur“ (Link)

[2] ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung: „Handwörterbuch der Stadt‐ und Raumentwicklung“, ARL, Hannover 2018

[3] Christian Menn: „Eine ist besonders gut“, TEC21, Zürich 2017

Weiterführende Artikel:

Die Schönheit gewachsener Baukultur erhalten

Wertvoll ist, was zeitlos ist

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