Teil 5 von 5: Historismus und Romantik (in Südtirol)

Ein kurzer Abriss der Geschichte der Architektur müsste – ausgehend von der Antike – mit dem Einfall der germanischen Völker in Rom in der Romanik, die mit Karl dem Großen den Höhepunkt erreicht, und in der Folge in der Gotik münden, wo die schwindelerregenden Kathedralen – der Statiker zweifelt ob der Tragfähigkeit – insbesondere einen missionarischen Hintergrund hatten. Im Humanismus und dem Auflehnen der oberitalienischen Stadtstaaten wurde die klassische Antike schließlich wiederentdeckt und jede Abweichung als „Entfremdung“ und „Barbarei“ beanstandet, um dann mit dem Barock und im Absolutismus doch wieder von diesem klassischen Ideal mehr und mehr abzuweichen.

Mit dem Klassizismus schlug das Pendel zurück zur klassischen Form und sollte ab der Französischen Revolution das repräsentative Bauen prägen.

In der Biedermeier-Zeit vollzog sich gesellschaftspolitisch die Hinwendung zur Privatheit. Der Klassizismus, der der Baustil der politischen Restauration war, schlägt sich im profanen Bauen als Biedermeier durch. Nach Revolution und Aufstand sehnte sich die Gesellschaft förmlich nach Ruhe. Bürgerlicher Lebensentwurf, Freizeitgestaltung, kulturelle und geistige Kontemplation, Musik, Theater und Literatur gewannen an Bedeutung. In der Biedermeier-Zeit wurden – auf die Stadt bezogen – die Vororte „entdeckt“ und der ländliche Raum in Form der Sommerfrische oder als Ausflugsziel erschlossen. Das schlägt sich besonders n den Dörfern und Städten in der Wiener Umgebung nieder, in denen sich Biedermeier-Architektur und Naturerlebnis vereinen.

Der Biedermeier-Stil kann gestalterisch als die „Erfindung der Einfachheit“ bezeichnet werden: „Reduktion auf einfache Geometrien, Verzicht auf Kleinteiligkeit, Dekor und Ornament und dennoch die Anlehnung an Formen aus der Natur“.

Das revolutionäre 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert veränderte unsere Gesellschaftsformen drastisch. Mit der industriellen Revolution und weitreichenden geistesgeschichtlichen sowie politischen Umwälzungen sollte die Art und Weise, wie es zu bauen galt, neu definiert werden.Mit dem „Bürgertum“, das zu Geld und Rang kam und mit dem Adel konkurrierte, betrat eine neue gesellschaftliche Schicht das Parkett. Insbesondere in Anbetracht eines nationalen Erwachens der europäischen Völker sollte man sich fortan fragen, ob es nicht auch abseits von Griechenland und Rom anderweitige Vorbilder für das „richtige“ Bauen gab.

Für Preußen wirkte Karl Friedrich Schinkel architektonisch prägend. Schinkel, der in einer Studienreise Böhmen, Österreich, Italien, Sizilien und Frankreich bereiste, ist zwischen Klassizismus und Historismus einzuordnen. Im Rahmen der französischen Fremdherrschaft stand Schinkel unter dem Einfluss der deutschen Romantik und ersann in patriotischer Gesinnung einen „deutschen“ Baustil in Anlehnung an die Gotik. Erst unter dem Einfluss von Wilhelm von Humboldt sollte Schinkel den Anschluss an die klassische Antike finden und darin die gesellschaftliche Idealität erkennen. Gegen Ende seines Wirkens vollzog Schinkel mit dem Rundbogenstil endgültig den Übergang in die Romantik.

Gottfried Semper, der knapp 20 Jahre nach Schinkel geboren wurde, entstammte bereits einer anderen Zeit. Semper konnte im Gegensatz zu Schinkel nicht mehr „vor der Industrialisierung die Augen verschließen“, schreibt der Kunsthistoriker Nils Aschenbeck. Folglich bezog Semper die Architektur nicht mehr nur auf ein antikes Idealbild, sondern leitete die Formensprache von handwerklichen Techniken ab. Die Erkenntnis, die bei Semper entsteht, ist: Die moderne Gesellschaft verlange durchaus nach eigenen Formen, doch werden diese nicht naiv geschaffen, sondern aus einer künstlerischen Tradition heraus abgeleitet“.

Im Rahmen der Revolution von 1848/9 baute Gottfried Semper, der überzeugter Republikaner war, in Dresden Barrikaden. Ansonsten tat sich Semper als Schriftsteller hervor und widmete sich einem Bauen, das aus den elementaren menschlichen Bedürfnissen heraus konzipiert wurde, nämlich Wärme, Schutz, Geborgenheit, soziale Abläufe. Charakteristisch für das Bauen in der Romantik wurde Gottfried Sempers „Bekleidungstheorie“. Semper erahnte in der gebauten Oberfläche die erweiterte menschliche Leiblichkeit. Was mit der Haut als fleischlicher Außenhülle vorerst ende, finde im Raum sowie in der Oberfläche als Teil der Bekleidung eine Fortsetzung. Die Bekleidungstheorie war die Grundlage der in der Romantik praktizierten Entkoppelung der Fassade vom baulichen und strukturellen Kern des Gebauten.

Ab 1871 wirkte Semper in Wien. Mit Carl von Hasenauer baute Semper das Kunsthistorische Museum und das Naturhistorische Museum, die Neue Hofburg sowie das Burgtheater.

Der Übergang zum Historismus

Wien

Ausgehend vom Rundbogenstil, der den Bezug zur Romanik herstellte, vollzog sich in der Romantik mit dem Historismus eine Hinwendung zu den großen baulichen Bewegungen der Vergangenheit. Die Fortsetzung erfolgte durch Neogotik, Neorenaissance und Neobarock. Ohne „Neo“ ging es scheinbar nicht.

Und so vollzieht sich eine Ambivalenz, die im frühen 20. Jahrhundert heftige Kritik widerfahren sollte: Während die Technologie mit dem Einsatz von Stahl, vorgefertigten, industriellen Baumaterialien und modularen Bauweisen einen Schub erhielt, war die Ästhetik vollständig von dieser technologischen Weiterentwicklung abgetrennt und schwelte „romantisch“ in der Geschichte.

In der Gründerzeit, in der eine Fülle an Villen, Mietshäusern oder Geschäftshäusern entstand, sollten die Bauwerke im Sinne der Romantik den Bauherren oder Bewohnern eineoberflächliche „Bedeutung“ verleihen, die vielfach in der Geschichte und in den Träumen ausgemacht wurde.

Insgesamt vollzieht der Historismus die Historisierung der Fassaden. Inszeniert wird das aus Naturstein gebaute Gebäude. Angedeutet wird über das Bossenwerk und die Rustika die Gliederung der Steinlagen. Die bevorzugte Farbe ist – dem Bauen in Naturstein gemäß – weiß bis grau. Das Gebaute ist ein in Stein gehauenes Märchen. Daraus entwuchs „ein Mangel an Glaubwürdigkeit“, meint Nils Aschenbeck: „Aus einem begründeten Verweissystem wurde – schöner Schein“.

Diese Ästhetik erfüllte das Bürgerherz: Zumindest äußerlich konnte man ein klein wenig an den Adel heranrücken und an die „großen Zeiten“ anknüpfen. Im Inneren blieben diese Gebäude aber vor allem eines: „Bürgerlich“ bis ins letzte Mark und an kleinlicher Nützlichkeit, Ausnutzung eines jeden Quadratmeters und eines jeden Halbstocks sowie an gesicherten Mieteinnahmen orientiert.

Wer gesellschaftlich aufrücken wollte, bemühte sich um einen bürgerlichen Habitus. Das gilt besonders auch für jene Bevölkerungsschichten, die durch das Studium einen sozialen Aufstieg und einen Einzug in die etablierten Kreise erhofften.

Die so genannte „Gründerzeit“

Die Gründerzeit-Architektur ist in jenem Sinne „modern“, als dass sie gekonnt neuartige Baumaterialien und Baumethoden einsetzte. Der Einsatz von Stahl eröffnete ungeahnte Möglichkeiten, steigerte die Effizienz und den architektonischen Gestaltungsfreiraum. Das Bauen wurde industrialisiert und normiert, der Bauprozess damit drastisch vereinfacht. Die Häuser waren nicht höher als 4 bis 5 Stockwerke, um Innenhöfe angeordnet, ermöglichten folglich eine hohe Wohndichte bei trotzdem hoher Lebensqualität.

Die Gründerzeithäuser verfügen über einfache und flexible Raummodelle, die – mit Abfangung der einen oder anderen tragenden Wand – auch für heutige Verhältnisse offene Wohn- und Arbeitsräume ermöglichen. Die Raumaufteilung ist möglichst flexibel, sodass ein Gründerzeithaus ohne größere bauliche Veränderungen als Wohnung, Wohngemeinschaft, Ordination oder Büro nutzbar ist. Darüber hinaus verfügen die Gebäude über großzügige Raumhöhen.

Die Finanzierung der Architektur durch Investoren änderte die Bedeutung des Gebauten, meint Nils Aschenbeck: „Ein Kapitaleigner, der Mietshäuser erstellte, hatte kein Interesse an der Bedeutung seiner Architektur. Ein Bauwerk sollte preiswert in der Herstellung sein, viel Grundfläche bieten und möglichst hohe Mieten einfahren. Die Gestaltung war dabei zweitrangig, nur insofern von Belang, als dass sie die Vermietbarkeit begünstigen sollte“.

Das Grundübel, das fortan verstärkt als Problem erkannt wurde, war der Sinnverlust im öffentlichen Raum. Die durch den Zinshauskapitalismus bewirkte rein oberflächliche Fassadengestaltung, hinter der nichts Tieferes und Wahres mehr steckte, warf zahlreiche Fragen auf. Die Fassaden wurden fast schon aus dem Katalog ausgewählt und willkürlich in den Raum gestellt. Damit konnten menschliche Bedürfnisse an den Raum nicht mehr gestillt werden.

Die zunehmende Dichte in den Städten und das Sichtbarwerden der gesellschaftlichen Fragmentierung auf engstem Raum sollten das gesellschaftliche Gefüge zunehmend als fragil und vermeintlich „falsch“ erscheinen lassen.

Die Widerentdeckung der Ländlichkeit

Als Gegenmodell zu den „Zivilisationskrankheiten“, die man in den Städten erahnte, wird der ländliche Raum entdeckt. Im späten Historismus zeichnet sich die Tendenz durch den so genannten „Heimatstil“ ab. Dem Verlust an Sicherheit und Geborgenheit tritt man durch die Idealisierung des „gesunden“ ländlichen Lebens entgegen. Dem festgestellten Mangel an Natürlichkeit begegnet man durch das propagierte „Zurück zur Natur“.

Die Formen im Heimatstil „suggerieren die erwünschte Primitivität, aber auch Naturnähe und nicht zuletzt – über die Ästhetik der Gewohnheit – auch Schutz und Geborgenheit (…) Das Elementare ist für den Heimatstil eine bestimmendere Kategorie als das (damit ebenfalls verknüpfte) Nationale“.

Speziell in Österreich ergab sich mit dem Heimatstil eine regionalbezogene Ausformung des Späthistorismus, der besonders im ländlichen Umfeld und bei herrschaftlichen Ansitzen in den Randbezirken Anklang findet. In dieser Zeit entstanden die Villen, Herrschaftshäuser und Ziergärten in den Außenbezirken mit romantischen Anklängen an das fröhliche Leben, an Lust, Jagd und trauter Bürgerlichkeit.

Der ländliche Raum wurde zunehmend zur „Projektion bürgerlicher Kulturbeobachtung“ und ein „ästhetisierter Raum“, der einer moralischen Kontextualisierung vom vermeintlich „wahren“ Leben entsprach. Das Bürgertum wollte jene Komfortstandards, die es in den Großstädten gewohnt war, auch am Land und in der Sommerfrische erlebbar machen, wodurch Investitionen in die Infrastruktur zweckdienlich waren. Hinzu kommen ästhetische Vorstellungen vom „ländlichen“ Leben.

Kulturpessimismus, Reform und Ende

Mit der Fortsetzung des Historismus sollte es im zunehmend „nervösen“ 20. Jahrhundert endgültig vorbei sein.

Die Begriffe der „Dekadenz“ oder des „Fin de siècle“ fassen das Lebensgefühl jener Zeit treffend zusammen. Die Dekadenz, also der gefühlte Zusammenfall alter Wertvorstellungen, war das eine – die Art und Weise, wie man dieser Relativierung begegnete, das andere.

Der Ästhetizismus war demgemäß das letzte „heroische Aufbäumen in Zeiten des Verfalls“ schreibt Günter Erbe. Dazu schreibt Nietzsche, dass der Mensch jenes „Einheitsgefühl“ anstrebe, „welches an das Herz der Natur zurückführt“. Es eröffnete sich die Zeit der großen Alternativen und der so genannten „Reformen“ als Gegenpart zu einem Zeitgeist, den man als zunehmend „falsch“ wahrnehmen sollte und wollte.

Die „Reform“ ist etwas anderes als die „Revolution“. Die Reform meint die Rückformung und Umgestaltung im Sinne des Eigentlichen. Die Revolution meint hingegen einen abrupten strukturellen Wandel. Die Revolution wurde durch die Avantgarde eingeläutet, die eine der Grundströme der baulichen Moderne kennzeichnete.

Reformarchitektur und Jugendstil haben hingegen ähnliche Hintergründe, die nicht in der Revolution, sondern in einer Veränderung gründeten. Der Jugendstil glaubte, sein Unbehagen gegenüber dem Zeitgeist durch Dekoration zu lösen, was einer übersteigerten Fortsetzung der Methodik des Historismus entspricht, während es der Reformarchitektur auf die Essenz selbst ankam, die neu zu bewerten sei.

Diese Reformarchitektur zeichnete sich in Wien als „Wiener Moderne“ ab, nannte sich fortan aber auch Neoromantik, Neoklassizismus, Traditionalismus oder Ästhetizismus und suchte die innerlichen Konflikte, die der Historismus aufwarf, teilweise brachial zu lösen.

Ohne dies zu schaffen: Das 21. Jahrhundert ist heute zersplittert wie eh und je.

Und Südtirol

Bozen

Südtirols Städte wurden als Teil der Habsburgermonarchie im beginnenden 20. Jahrhundert nach dem Vorbild Wien gestaltet. Insbesondere Meran wurde mit Straßenbahn, Boulevard und Gründerzeit-Villen zum ländlich-mediterranen Abklatsch Wiens.

Das Meraner Kurhaus stellt eine Jugendstil-Perle dar. Wobei die Einordnung des Jugendstils immer so eine Sache ist. Gegen Ende hin wird der Historismus als Späthistorismus – durch Frankreich geprägt – verspielter und geschwungener. Der Übergang zum Jugendstil zeichnet sich ab. Aber auch der Übergang zur Wiener Moderne. Das Meraner Kurhaus ist wohl dort einzuordnen. Der Charme Merans rührt auch heute noch vom Beginn des 20. Jahrhunderts als Feriendomizil der Habsburger.

Hinzu kommt die „Eroberung“ der Natur durch die moderne Zivilisation in der Romantik, die besonders in Form der Grand Hotels teilweise exponierte Ausläufer findet. Jagdschlösser, Ansitze, Ausflugsziele, Kurhotels, Parks und Promenaden finden den Einzug in das Land.

Auf italienischer Seite setzt sich nach der Annexion Südtirols allerdings auch eine bestimmte Form von „Romantik“ durch, die auf die Größe Roms setzt – in einem zu großen Teilen nicht-italienischen Land ein nach wie vor zweifelhafter Schritt.

Prolog: Was ist Ästhetik?

Teil 1: Antikes Bauen

Teil 2: Romanik und Gotik (in Südtirol)

Teil 3: Renaissance (in Südtirol)

Teil 4: Barock und Klassizismus (in Südtirol)

Teil 5: Historismus und Romantik (in Südtirol)

Literatur:

[1] Friederike Meyer: „Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit“, Bauwelt 15-16, Berlin 2007

[2] Nils Aschenbeck: „Reformarchitektur: Die Konstituierung der Ästhetik der Moderne“, Birkhäuser Verlag, Basel 2016

[3] Amt der Niederösterreichischen Landesregierung: „Denkmalpflege in Niederösterreich – Elementares
und Anonymes“, Band 11, Wien 1993

[4] Hans-Christian Lippmann: „Sommerfrische als Symbolund Erlebnisraum bürgerlichen Lebensstils –
Zur gesellschaftlichen Konstruktion touristischer ländlicher Räume“, Technische Universität Berlin, Berlin 2015

[5] Günter Erbe: Der moderne Dandy, Böhlau Verlag, Köln 2013

[6] Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie“, Fritzsch, Leipzig 1872

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