Vielfach stellt sich die Frage, wie Qualität, Zuverlässigkeit und Standfestigkeit von Bauprojekten nachgewiesen werden sollen, folglich, auf welcher technischen oder normativen Grundlage eine Leistung geschuldet ist. Immer dann, wenn sich in der Folge ein Rechtsstreit eröffnet, wird daraus eine empfindliche und teure Angelegenheit, weil bei Bauprojekten in der Regel große Kosten und große Risiken im Spiel sind. Insbesondere dann, wenn die Erfahrung alleine nicht mehr vertrauenswürdig ist und es um rechnerische Nachweise geht, stellt sich die Frage nach dem theoretischen Ansatz dahinter.
Normen alleine sind bei komplexen Angelegenheiten, die von „herkömmlichen Fragestellungen“ abweichen, in der Regel nicht ausreichend. Und die „Erfahrung“ ist eine zwiespältige Sache.
Souverän ist, wer seine praktische Lösungsfindungen auf einen fundierten theoretischen Unterbau zu stellen weiß. Nicht nur in der Technik. Eine Theorie allerdings, die sich in der Praxis bewährt und nicht alleine akademische und intellektuelle Selbstbeschäftigung ist.
Grundsätzlich kennen wir in Bezug auf die Frage, welcher technischer Standard anzusetzen ist, 3 verschiedenartige Stufen: 1. Die allgemein „anerkannten Regeln der Technik“ (italienisch „Stato attuale della tecnologia“). 2. Den „Stand der Technik“ (italienisch „Stato dell’arte“). 3. Den „Stand der Wissenschaft“ („stato della scienza“). Die Definitionen sind auf jeden Fall abstrakt.
Anerkannte Regeln der Technik
In der ersten Stufe geht es um die „herrschende Auffassung unter den technischen Praktikern“. Es geht dabei um eine so genannte „Branchenüblichkeit“ [1].
Stand der Technik
Als „Stand der Technik“ wird nach EN 45020 hingegen das „entwickelte Stadium der technischen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt“, basierend auf „gesicherten Erkenntnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung“.
„Die Einhaltung des „Stands der Technik“ stellt das Mindestmaß für die Produktfehlerfreiheit dar“ [1].
Die Konkretisierung des „Standes der Technik“ erfolgt in der Regel durch Verweis auf Rechtsvorschriften und Regelwerke.
Grundsätzlich handelt es sich bei dem Begriff um keinen festen Standard, sondern letztlich um eine Interpretation, welche – wie immer – am Ende der Geschichte Gerichtssachverständige und Gerichte zu definieren haben [2].
Insofern Normen vom Stand der Technik abweichen, ist in der Regel eine Überarbeitung notwendig.
Stand der Wissenschaft
Auf der höchsten Stufe steht der „Stand der Wissenschaft“. Damit sind die neuesten Erkenntnisse aus den Wissenschaften gemeint, die mithin noch nicht in den Stand der Technik sowie in die Normung übergegangen sind.
Je höher das Risiko, umso eher wird die Berücksichtigung des Stands der Wissenshaft erwartet, wobei von einem „technologischen design freeze“ auszugehen ist. Irgendwann wird im Zuge der Produktentwicklung folglich der jeweilige Kenntnisstand als Faktum hingenommen, da ansonsten die Produktentwicklung nicht mehr mit dem Wissensstand mithalten könnte.
„In der Praxis ist eher vom „Stand der Wissenschaft und Technik“ die Rede als „Inbegriff der Sachkunde […], die im wissenschaftlichen und technischen Bereich vorhanden ist, also die Summe an Wissen und Technik, die allgemein anerkannt ist und allgemein zur Verfügung steht“, wobei Wissenschaft und Technik zueinander in einem Theorie-Praxis-Verhältnis stehen. Die (verfügbaren) „neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse“, die sich nicht auf die für die Produktentwicklung vordergründig einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen beschränken, setzen den fachlichen Standard für die Sicherheitserwartung. Ob einschlägiges Wissen für den Hersteller verfügbar ist, bemisst sich aus einer objektiven Perspektive und nicht anhand der konkreten Situation des Herstellers. Es kommt letztlich darauf an, ob die maßgeblichen Informationen in wissenschaftlichen Kreisen zirkulieren und ob es ernsthafte empirische Anhaltspunkte für deren Richtigkeit gibt“ [1].
Grundsätzlich ist eine „Legaldefinition“ des „Standes der Wissenschaft“ kaum möglich. Letztlich ist alles eine Interpretationsfrage und eine Frage der Rechtsprechung.
Die Praxis
Ist im Konkreten der „Stand der Technik“ oder der „Stand der Wissenschaft“ anzusetzen? Verbindlich ist der Stand der Technik. Dieser kann allerdings von der Normung abweichen. Auf jeden Fall anwendbar ist allerdings der „Stand der Wissenschaft“, da es sich um weiterreichende Erkenntnisse handelt, die noch nicht in der Technik übernommen worden sind. Inwieweit es sich dabei allerdings um einen „anerkannten Wissensstand“ handelt, ist eine juridische Frage.
Grundsätzlich gilt primär der geschuldete Inhalt eines Vertrages und in zweiter Folge der „Stand der Technik“, welcher allgemein, aber nicht vollständig, als Normenstand aufgefasst werden kann. Grundsätzlich gehen die Normen, so auch die Eurocodes, immer davon aus, dass erprobte Versuche den Norminhalt in Frage stellen können, womit der „Stand der Wissenschaft“ erreicht ist.
„Zusammenfassend lassen sich drei Ebenen ausmachen: Allen voran stehen die allgemein anerkannten Regeln der Technik. Sie entsprechen aufgrund des Merkmals „allgemein anerkannt“, und dem hierfür notwendigen fachlichen Konsens, nur mit Verzögerung Neuerungen und technischem Fortschritt. Demgegenüber bildet der Stand der Technik, der einer langfristigen Bewährung und damit verbundenen allgemeinen Anerkennung nicht bedarf, technische Innovation unmittelbarer ab. Der Stand der Wissenschaft (und Technik) schließlich spiegelt als weitestes Feld die aktuellsten technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse wider und wird nicht durch das bereits Realisierte bzw. Realisierbare eingeengt“ [3].
Literatur:
[1] Jürgen Ensthaler, Dagmar Gesmann-Nuissl & Stefan Müller: „Technikrecht – Rechtliche Grundlagen des Technologiemanagements“, Springer Vieweg, Berlin Heidelberg 2012
[2] Hans-Werner Lehner: „Der „Stand der Technik“ – Technikklauseln und ihre Bestimmbarkeit“, Johannes Kepler Universität Linz, Linz 2018
[3] Jutta Hinkelmann: „Technikstandards: Was ist was?“, Deutsches Architektenblatt, 09 – 2018