Ist von „Genius Loci“ die Rede, dann ist der besondere Zauber gemeint, der von einem bestimmten Ort ausgeht. Der Mensch ist ein territoriales Wesen, das sich im Raum orientiert, sich mit dem Raum verbindet, – wie der Baum – seine Wurzeln räumlich schlägt, sich im Raum nährt, mit dem Raum in Stoffwechselbeziehungen steht, sich durch den Raum prägen lässt, aber – im Sinne des gestaltenden Menschen – auch den Raum prägt. Leben ist ja gewissermaßen der Wille zur Form.
Aus vielerlei Gründen ist der Mensch mit dem Raum verwoben. In altertümlicher Zeit vermochte man im Raum „Göttliches“ zu erkennen. In der römischen Mythologie bezeichnete der „Genius Loci“ den Geist des Ortes. Der Ort wurde als etwas Heiliges verehrt und mit einer bestimmten Spiritualität gleichgesetzt. Die Geister wurden im Kult verehrt [4].
Ursprünglich war die römische Mythologie stark an den Ort und die Natur gebunden. Mit der Übernahme der griechischen Götterwelt wurde das Heilige fortan mehr und mehr vom Territorium getrennt, während die ursprüngliche Mythologie in der Geisterwelt fortlebte. Vielleicht war mit dem Umstand, dass man die „neuen“ Götter auch in fremden Ländern huldigen konnte, die Grundlage für das weltumspannende römische Imperium gelegt.
Immer wieder wird der Ort mit dem „Heiligen“ gleichgestellt, es werden so genannte „heilige Orte“ in Anspruch gestellt. Heute ist vielfach von „Kraftorten“ die Rede, wobei sich selbstverständlich die Frage stellt, ob es sich dabei effektiv um Energiequellen handelt und inwiefern sich Energie an Orten konzentriert. Kraftorte waren besondere Felsformationen, Bäume und Wälder, Pflanzen, Gewässer oder ganz einfach die Atmosphäre. Zu vorchristlicher Zeit markierten die Menschen die Erhöhungen und Berge, also jene Orte, wo sie sich dem Himmel und den Ahnen näher fühlten, mit Steinskulpturen oder mehr oder weniger archaischen Tempeln.
Mircea Eliade schreibt zu der Methodik der Herangehensweise an heilige Orte: „Diese Zentren verlieren nur schwer ihre Verehrungswürdigkeit und gehen als eine Art Erbschaft von einem Stamm auf den anderen, von einer Religion auf die andere über. Die in der Frühgeschichte verehrten Felsen, Quellen, Grotten oder Haine werden – in anderer Form – noch von den christlichen Stämmen unserer Zeit heilig gehalten (…) In Wahrheit beweist die Kontinuität heiliger Orte die Autonomie der Hierophanien; das Sakrale manifestiert sich nach den Gesetzen seiner eigenen Dialektik, und diese Manifestation tritt dem Menschen von außen entgegen“ . Unter Hierophanie versteht Eliade eine Heiligenerscheinung: Dieser Ort, diese Quelle, dieser Baum. Freilich vollzog sich die Christianisierung nicht immer im freiwilligen Übergang, sondern im Zwang und in Zerstörung und Umdeutung der vorchristlichen Kultstätten. Trotzdem oder gerade deshalb vollzieht sich die Ausbreitung des Christentum unter Wahrung und Fortführung eben dieser vorchristlichen Tradition und des spirituellen Erlebens im Raum.
Der Bau eines Tempels markiert fortan eine Erhebung. Nach Eliade gründen diese Bauten auf eine „Uroffenbarung“, auf einen Archetypus und stellen in sich selbst ein Universum dar. Das wird bei christlichen Kirchen evident, die mit dem Gewölbe abschließen, das den Himmel selbst darstellt und ein Himmelsgewölbe abbildet und die folglich eine „Rekonstruktion der Welt“, insbesondere auch einer Weltanschauung, gleichkommen. Zudem ordnet sich das spirituelle Universum in den Himmel und die Hölle ein, also Erhebung und Abgrund, während die Welt der Menschen sich dazwischen abspielt. In dieser Bauart offenbart sich die aus der Antike herrührende Prägung als Schaffung einer „zweiten Natur“. Diesem Umstand ist es allerdings auch zu verdanken, dass klassische Kirchen überall auf der Welt, ob in der modernen Großstadt oder am Land. Nicht zu unterschätzen ist der Wert der Einsamkeit als „Entdeckung des persönlichen Da-Seins, als Ort eigenen Suchens nach dauerhaft Beglückendem im engsten Lebens- und Umkreis“ [4].
Dass auch heute von bestimmten Orten bestimmte Wirkungen ausgehen – und sei es „nur“ die einmalige Atmosphäre – liegt aufgrund der vielfältigen Sinneseindrücke, die eine Landschaft erzeugt, auf der Hand. Der Raum ist unsere erweiterte Leiblichkeit. Während unsere Haut die erste Membran darstellt, stellt unsere Kleidung die nächste dar, es folgt die Einrichtung, das Gebäude, die Umgebung und die Natur.
Atmosphären sind nach dem Philosophen Gernot Böhme „gestimmte Räume“ [7]. Unsere Leiblichkeit kommuniziert mit dem Raum, wir sind selbst Teil des Raumes, unser Körper reagiert auf die Reize, hinterfragt und fühlt. Böhme erachtet das Umweltproblem in der Folge als „eine Beziehung des Menschen zu sich selbst“. In der Naturerfahrung hinterfragt der Mensch, was es heißt, Natur zu sein und leiblich an ihr teilzuhaben. Böhme meint, dass wir die Natur insbesondere in ihren „Ekstasen“ erfahren. Das sind wohl jene Momente, die das Alltägliche übersteigern und uns staunen lassen. Woher diese Empfindungen rühren, wissen wir nicht, vielfach sind es wohl unsere Urinstinkte. Vielleicht gibt es in der Natur die Ekstasen des Nordens und die Ekstasen des Südens sowie auch die Ekstasen des Überganges.
Ob an bestimmten Orten aus historischer Sicht eine bestimmte Ausstrahlung bemerkbar wurde oder ob man die Ausstrahlung erst nachträglich in den Ort projizierte, sei dahingestellt. Damit Menschen sich an einem bestimmten Ort niederlassen, sind auf jeden Fall physisch-materielle Grundlagen sowie Kenntnisse der natürlichen Abläufe notwendig, nämlich der Bodenverhältnisse, der Himmelsrichtungen, der Winde, der Jahreszeiten, der Flora und Fauna sowie der Verfügbarkeit von Wasser.
Der norwegische Architekt Christian Norberg-Schulz schreibt zum prinzipiellen Kontext des Ortes sowie der Geborgenheit, die sich im Bauen äußern: „In den nordischen Ländern ist das Wohnen ein Problem besonderer Art. Das sub-arktische Klima, die in der Weiträumigkeit des Landes verstreute Bevölkerung erfordern Stätten, die mit den urbanen Typen des Südens wenig gemeinsam haben. Vor allem findet das Leben im Norden innen statt, und das Haus war deshalb immer die führende Bauaufgabe. So sagt der finnische Architekt Reima Pietilä, dass der Traum des nordischen Waldmenschen eine „Höhle aus Holz“ sei; das heißt, ein warmer Zufluchtsort, der ein Gefühl der Sicherheit verleiht und der zur Beschaulichkeit einlädt. Jahrhundertelang hindurch haben die norwegischen Bauern ihre Stuben mit Blumenmustern geschmückt, um die Vision von Fruchtbarkeit und Leben während des langen Winters wachzuhalten“ [1] [2].
Norberg-Schulz sieht im Wohnen „eine Identifikation mit der gegebenen Umwelt“: „Nur wenn der Mensch in seiner Beziehung zur Umwelt Sinn und Zugehörigkeit erlebt, können wir sagen, dass er „wohnt“. Es genügt deshalb nicht, ein Dach über dem Kopf zu haben, sondern wir müssen auch von Dingen umgeben sein, mit denen wir vertraut sind“ . Wahrscheinlich bezieht sich diese Identifikation auch auf die Form.
Dass sich die Architektur mit dem Ort befasst und Atmosphären schafft, liegt auf der Hand. Darin liegt das ursprüngliche Interesse der Architektur, die ja auch etymologisch als die „erste Kunst“ gilt.
Im Ingenieurwesen ist der Blick vielfach nüchterner. Die Werkstoffe werden berechnet, ebenso der Boden, alles soll möglichst stabil und tragfest sein, über alles andere macht man sich nicht allzu viele Gedanken. Allerdings ist jede Materie ein Bedeutungsträger. Ob wir in Holz, Beton oder Kunststoff bauen, ist nicht nur eine Frage der Tragfestigkeit, sondern auch eine Bedeutungsebene. Ebenso ist der Baugrund, der Geschichte materialisiert nicht nur ein sinnfreie Überschüttung von Kies, Sand und Feinteilen mit Wasser, sondern etwas Lebendiges und etwas Historisches.
Der Bauingenieur Fritz Leonhardt erachtet im Einbeziehen der Natur eine Kategorie, die über die Schönheit des Bauwerks entscheidet: „Das höchste Maß an Schönheit finden wir immer in der Natur, in Pflanzen, Blumen, Tieren, Kristallen und rundum im weiten Kosmos in einer solchen Vielfalt der Formen und Farben, dass hier der Ansatz zur Analyse vor Ehrfurcht und Bewunderung schwerfallt. Bei genauerer Beschäftigung mit der Schönheit finden wir auch dort in vielen Fällen Regeln und Ordnungen, doch stets mit Ausnahmen. Die Schönheit der Natur ist andererseits ein reicher Quell für die seelischen Bedürfnisse des Menschen, für sein psychisches Wohlbefinden“ [5].
Gemeinsam mit dem Architekten Paul Bonatz formuliert der Bauingenieur Fritz Leonhardt in diesem Sinne die Worte: „Schönheit liegt nicht im Beiwerk, sondern in der echten, sinnvollen und wahren Grundform, im Einfachen, im Weglassen und Vermeiden alles Willkürlichen, Zufälligen, Modischen. Modisches wird altmodisch und vergeht: Das Einfache, Wahre bleibt. Zum Schönen, zum Letzten, kommt das Werk aber nicht von selbst oder durch Zufall, sondern nur dann, wenn ein bewusster und geschulter Wille dorthin führt“ [6].
Literatur:
[1] Christian Norberg-Schulz: „Genius Loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst“, Klett-Cotta, Stuttgart 1982
[2] Christian Norberg-Schulz. „Genius Loci: Towards a Phenomenology of Architecture“, Rizzoli, Milano 1979
[3] Gaston Bachelard: „Die Poetik des Raumes“, Hanser Verlag, München 1975
[4] Mircea Eliade: „Die Religionen und das Heilige – Elemente der Religionsgeschichte“, Insel Verlag, Frankfurt 1998
[5] Fritz Leonhardt: „Zu den Grundfragen der Ästhetik bei Bauwerken“, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1984
[6] Paul Bonatz & Fritz Leonhardt: „Brücken“, Karl Robert Langewiesche Verlag, Königstein m Taurus 1951
[7] Gernot Böhme: „Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
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