Baukultur und Inneneinrichtung: Die Atmosphäre und die Qualität des Historischen

Wenn sich im Bauen die elementaren Zusammenhänge äußern und der Wohnraum unsere erweiterte Leiblichkeit markiert, dann bedeutet Bauen mehr als eine willkürliche Ansammlung von Materie. Die Materie stellt die Verbindung zwischen Leib und Geist her. Und zwar durch die Form.

Die Wiener Architektin Noémi Achammer-Kiss stellt zum Verhältnis zwischen Körper und Raum fest: „Jede Beschäftigung mit der Gliederung von Raum führt notwendigerweise zurück auf den Menschen, der im Raum lebt und sich zu dem Raum verhält. Die innige Verbindung von Mensch und Raum zeigt sich nicht nur darin, dass der Mensch seinem Wohnraum den Charakter seines eigenen Wesens aufprägt, sondern auch darin, wie er in seinem ganzen Wesen durch seinen Umraum bestimmt ist. Das Wesen des Menschen wandelt sich je nach dem Wesen seines Umraums, in dem er sich gerade befindet“ [1].

Und weiter: „Mit der Materie von der näheren Umgebung des Wohnumfeldes kommt man in körperlichen Kontakt – Wohnen ist in der Materie sein, darauf stehen, gehen, auf ihr sitzen, sie anziehen, sie essen“.

Nach Achammer-Kiss ist das Material der Atmosphären-Träger im Raum. Materien bilden den Raum, machen ihn zur materiellen Wirklichkeit, etablieren allerdings auch einen Qualitätsunterschied, der in der Verschiedenartigkeit der Materien besteht. Diese Verschiedenartigkeit ist durchaus zeitlich bedingt: Das Material lebt, verändert sich, macht sich uns in einem bestimmten Zustand erfassbar.

Ähnlich wie der menschliche Atem die menschlichen Organe zu einem Ganzen macht, ist es nach Emanuele Coccia die Atmosphäre, die die Dinge in ein Verhältnis setzt, sie umhüllt und belebt.

Die Form ist die spezifische Gestalt, die die Materie unter dem Einfluss des schaffenden Geistes einzunehmen vermag und die in der Folge eine Stimmung oder eine Atmosphäre erzeugt, weil eine reflektive Wirkung von ihr ausgeht. Diese Atmosphäre geht eine Beziehung mit dem Betrachtenden ein.

Stimmigkeit, Atmosphäre und Ausdruck kommen im elementaren Bauen zum Ausdruck. Weil die Dinge nicht willkürlich und beliebig sind, sondern Bedeutungsebenen und Beziehungen erfahrbar werden.

Ein bestimmter Raum drückt genauso wie eine bestimmte Abfolge von Tönen eine Stimmung aus, die wir wahrnehmen, einordnen und die unser Verhalten präget In den meisten Fällen – jedoch immer seltener – vermögen wir eine heilige Stätte von einem Lokal für die lukullischen Genüsse zu unterscheiden.

Dort, wo die ureigene Bedeutung aus dem Raum verbannt wird, obliegt es irgendwelchen anderweitigen Erklärungsversuchen und Doktrinen, uns das „richtige“ Verhalten zu erklären – zumeist ohne „klar“ zu sein. Daran vermag das irreführende Attribut des „Funktionalismus“ nur sehr wenig zu ändern. Vielfach ist es banal und eine intellektuelle Anmaßung, menschliche Funktionen im Bauen und im Raum darzustellen, die ohnehin niemand versteht. Demgegenüber stellt das bodenständige Bauen seit Jahrhunderten die elementaren Funktionen erfolgreich im Raum dar.

Noémi Achammer-Kiss bringt Zauber und Geist, die in Materie und Material stecken, auf den Punkt, wenn sie schreibt: „In der arbeitenden Beziehung wird die Materie als Werkstoff verstanden. Wenn wir ein Material angreifen, haben wir es mit seinen Eigenschaften zu tun. Die uns umgebenden Dinge sind durch eine Vielzahl materieller Eigenschaften erfahrbar, sie haben eine Gestalt, eine Masse, eine Oberflächentextur, Elastizität, Farbe, einen Klang, einen eigenen Geruch und Geschmack. All diese materiellen Eigenschaften ermöglichen bestimmte Handlungen mit gewissen Produkten und schließen andere aus, sie ermöglichen sinnlichen Genuss und körperliches Leiden, sie können einen Stuhl unbequem, einen Stoff klebrig, einen Griff kalt, ein Glas zerbrechlich, eine Oberfläche unbeliebt, eine Flüssigkeit wohlschmeckend machen. Die Materialität der Dinge sorgt im Prozess des Umgangs mit ihnen für eine spezifische Qualität der Erfahrung„.

Die Atmosphäre, die die Dinge erzeugen, werden durch Nachprüfen verifiziert – oder eben nicht. Gelingt die Verifizierung nicht, handelt es sich höchstens um eine „schöne“ Inszenierung, im schlimmsten Fall aber um eine Täuschung, womit der sinnliche Wertverlust abrupt ist.

Über die Dauer der Zeit zeigen Materialien Abnützungserscheinungen, aber auch Spuren menschlicher Begebenheiten und Geschichten. Darin besteht kein Defizit – ganz im Gegenteil. Materialien, die das Altern zulassen, gewinnen dadurch gerade erst an Wert. Es ist „Patina“, die sich festsetzt, damit eine ganz spezifische Atmosphäre, die das Material kennzeichnet.

Es gibt Gebrauchsgegenstände, Möbel, Werkzeuge, Schmuckgegenstände und auch Kleider, die auf eine bestimme Art und Weise – robust, massiv und dauerhaft – geschaffen sind und die durch Alterung, Pflege und die damit verbundene Fähigkeit, Erinnerungen zu sammeln, erst ihren spezifischen Wert erlangen – und die in der Folge über Generationen hinweg vererbt und weitergegeben werden, während andere Gegenstände nach wenigen Jahren schon ein Entsorgungsfall sind, weil ihre Halbwertszeit denkbar gering ist.

Vittorio Magnago Lampugnani schreibt zur Atmosphäre, die Gebrauchsgegenstände, die zeitlos, klassisch und dauerhaft sind: „Wir lieben keine Möbel, die gemacht sind, um bald und ohne jedes Bedauern ersetzt zu werden. Statt dessen glauben wir an Möbel, die entworfen und konstruiert wurden, um uns ein Leben lang oder wenigstens ein Gutteil unseres Lebens zu begleiten; die repariert werden können, wenn sie kaputtgehen, modernisiert, wenn sie verbraucht und beschädigt werden; die gelassen alt werden können und mit der Zeit sogar immer edler und schöner werden“ [2].

Lampugnani treibt es weiter: „Die Funktion muss an die Notwendigkeit gebunden sein (nicht an den Genuss und den Luxus) und in umfassender, bestmöglicher und ökonomischer Weise erfüllt werden. Die Konstruktion muss einfach sein, verständlich, zerlegbar und wiederverwendungsfähig. Das Material muss fest sein, Patina annehmen können, kleine Kratzer und leichte Beulen aushalten, die nichts anderes als die Zeugenspuren des Gebrauchs an der Oberfläche der Gegenstände sind. Dir Form muss nüchtern sein, von der Art, dass man ihrer nicht schon nach wenigen Tagen überdrüssig wird, dauerhaft, weil klassisch oder dazu bestimmt, es zu werden“ [2].

Vielfach ist es doch so: Ein historisch wertvoller Gegenstand, ein Bild, eine Statue, ein Möbelstück, vermögen einem ganzen Raum Atmosphäre und Aura zu verleihen.

Noémi Achammer-Kiss hat recht, wenn sie schreibt: „Qualität der historischen Tiefe: Alt sein und Zusammengewachsen-Sein sind Qualitäten, die gespürt werden (…) Alles, was eine Geschichte hat, vermittelt das Gefühl einer sicheren Stetigkeit des Lebens“ [1].

Die Freude an den „schönen“ Dingen entsteht durch die Fähigkeit, längere Zeiträume zu überdauern, uns auf unserem Lebensweg zu begleiten, Geschichten und Erinnerungen aufzunehmen, auf eine Überzeitlichkeit ausgerichtet zu sein. Trotz mitunter anfänglich erhöhtem Anschaffungspreis ist durch die längere Lebensfreude längerfristig die günstigere Variante gegeben.

Die Materie speichert die Erinnerungen. Und weckt sie für uns auf. Deshalb ist es ein gravierender Fehler und ein kulturelles Problem, steril, gesichtslos, scheinbar „zeitgemäß“ und „zeitgeistig“ und für maximal 30 Jahre zu bauen.

In dem Sinne, wie die Materie die Erinnerung zu speichern vermag, beherbergen unsere Räume eine schiere Unzahl an Erinnerungen. Wir selbst vergessen diese Erlebnisse leider viel zu oft. Im Raum, in der vertrauten Umgebung, schießen sie uns aber wieder in den Kopf, erreichen unseren Bauch und unser Herz. Für einen Moment scheint die Zeit angehalten.

Nobelkeit kennzeichnet, Historisches zu erhalten oder Neues schaffen, das an Qualität an das Hustorische anknüpft. Die unförmige Glas-Stahl-Beton-Villa, die nach 30 Jahren ein Fall für die Mülltrennung ist, kennzeichnet das Gegenteil: Leben im Wegwerfmodus ohne Erinnerung und Noblesse.

Literatur:

[1] Noémi Achammer-Kiss: „Atmosphäre – Wechselbeziehung zwischen Mensch und Material“, Diplomarbeit, Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Wien 2008

[2] Vittorio Magnago Lampugnani: „Die Modernität des Dauerhaften – Essays zu Stadt, Architektur und Design“, Wagenbach Verlag, Berlin 2011

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