Modernes Erdbebeningenieurwesen: Bauwerksdynamik unter Höchstlasten

Dramatische Erdbeben werfen uns immer wieder aus der gefühlten Sicherheit heraus, lassen uns der Anfälligkeit unserer gebauten Umwelt bewusst werden und die Frage aufwerfen, wie sicher unsere Bauwerke sind oder sein sollen.

Die Frage nach der Verletzbarkeit oder Vulnerabilität unserer Bauwerke stellt sich bei Erdbeben in aller Dramatik, weil mit einem Tragwerksversagen viele Menschenleben auf dem Spiel stehen. Bauwerke sind vielfach – gerade im historischen Bestand – nur für vertikale Kräfte ausgelegt und versagen empfindlich, wenn horizontale Erdbebenkräfte wirken.

Im Sinne einer Risikoanalyse geht es darum, Bestandsbauwerke realistisch einzuschätzen, Tragwerksreserven abzuleiten und gegebenfalls Ertüchtigungen und Verstärkungen durchzuführen, um für Erdbeben gerüstet zu sein.

Moderne Erdbebenberechnungmethoden tragen dazu bei, Risiken realistisch einzuschätzen und Bauwerke mit annehmbarer Sicherheit zu bauen. Freilich: Bei manchem (kühnen) Architekturentwurf lässt sich die gestalterische Kreativität nur durch (leichtsinnige) Vernachlässigung des Lastfalls Erdbeben verwirklichen. Dabei ist robust eigentlich sexy und statisch leichtsinnig eher abtörnend bis trivial. Aber: Gut, dass mancherorts die Erde selten bebt.

Erdbeben haben eine bestimmte statistische Verteilung. Durch den Rückgriff auf die Statistik wird versucht, Erdbeben gewissermaßen „berechenbar“ zu gestalten. Da wir keine Alternativen haben, bildet die Wahrscheinlichkeitstheorie die einzig anwendbare Möglichkeit, um das scheinbar „Zufällige“ berechenbar zu machen.

Erdbebenberechnungen laufen immer darauf hinaus, die Kräfte in einem Bauwerk zu bestimmen, die sich aus einer Erdbebenanregung ergeben. Entsprechend der Methode variieren die Erdbebenkräfte im Bauwerk und somit die Erdbebenbemessung wesentlich.

Während herkömmliche Belastungen eine Bauwerksreaktion hervorlösen sollen, die sich im elastischen Bereich befinden soll, gilt gleiches für leichte Erdbeben und – mit lokalen Ausnahmen – für mäßig starke Erdbeben. Bei starken Erdbeben werden hingegen Dämpfungen notwendig, die weit über den elastischen Bereich hinausreichen.

Duktilität bezeichnet die Eigenschaft eines Bauteils, sich plastisch zu verformen. Durch die Verformung wird Energie dissipiert. Während ein sprödes Bauteil schlagartig versagt, bildet ein duktiles Bauteil vor dem Versagen ausgeprägte Verformungen aus. Die Energiedissipation besteht in der Umwandlung der einwirkenden Energie in Reibung und / oder Verformung, welche sich folglich nicht oder nur teilweise in Kräften niederschlägt. Eine große Steifigkeit bedingt die Fähigkeit, große Kräfte aufzunehmen. Eine große Duktilität vermeidet große Kräfte.

Konventionelle Erdbebenbemessungen sehen keine oder nur beschränkte duktile Verbindungen vor. Das inelastische Verhalten wird ausschließlich näherungsweise über den Verhaltensbeiwert q berücksichtigt. Typischerweise besteht die konventionelle Erdbebenbemessung in einem linearen Modalverfahren. Dabei erzeugen die Bauwerksmassen Kräfte, die in Form eines Mehrmassenschwingers durch die Erdbebenanregung schwingen.

Kapazitätsbemessungen (Pushover-Berechnungen) betreffen hingegen die Analyse duktiler Tragwerke. Im Rahmen der Kapazitätsbemessung wird ein kontrolliert duktiles Verhalten der Tragstruktur in Rechnung gestellt. „Kontrolliert“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der Planung festgelegt wird, an welchen Bauteilen sich im Erdbebenfall plastische Mechanismen ausbilden dürfen. Es wird folglich ein geeigneter und günstiger plastischer Mechanismus unterstellt. Daraus ergibt sich eine seismische Hierarchie der Bauteile.

Während jene Bereiche, die plastifizieren, als duktil bemessen sind und eine Überfestigkeit (overstrength) entwickeln, bleiben die anderen Bauteile elastisch und müssen folglich derart bemessen werden, dass diese im Rahmen der Verformungen und Einwirkungen sowie der Kräfte aus dem Nachgeben der dissipativen Elemente tragfähig bleiben. Tragwerksverbindungen müssen folglich darauf geprüft werden, ob diese im Erdbebenlastfall ein duktiles Verhalten ausbilden oder nicht. Für Tragwerksverbindungen mit duktilem Verhalten gelten entsprechend hohe Anforderungen mit Hystereseschleifen.

Das Problem der konventionellen Verfahren liegt darin, dass sich diese im elastischen Bereich aufhalten. Aufgrund einer Erdbebeneinwirkung wird eine Kraft ermittelt, die am Bauwerk aufgrund der Steifigkeiten ansetzt. Das Bauwerk wird sodann elastisch bemessen. Nicht berücksichtigt wird, dass das Bauwerk selbst auch im überelastischen Bereich noch nicht versagt, sondern plastische Verformungen aufnimmt, die zwar nicht mehr rückgängig zu machen, jedoch das Bauwerk und Menschenleben schützen.

Gegenüber den konventionellen Verfahren bedeutet die Kapazitätsbemessung folglich deutliche Vorteile. Gerade bei Werkstoffen, die keine ausgeprägt elastischen, allerdings plastische Eigenschaften haben, wie Mauerwerk, zahlt sich die Kapazitätsbemessung folglich aus, um die vorhandenen Kapazitäten des Bauwerks zu ermitteln und um dieses nicht „sinnlos“ konstruktiv zu verstärken. Bei geringen Erdbebenlasten ist eine lineare Analyse einfacher.

Bei hohen Erdbebenlasten und große Bauwerkshöhen ist der Schritt in Richtung dissipativer Tragstrukturen erforderlich. Dazu gehören zentrische und exzentrische Aussteifungen sowie aktive oder passive Dämpfungselemente.

Weiters wird in der Kapazitätsbemessung eine Last-Verformungskurve ermittelt, sodass das reale Verformungsverhalten abgebildet werden kann. Für die Last-Verformungskurve ist allerdings ein Verformungsansatz anzusetzen, welcher meistens analog zur ersten Eigenform angesetzt wird. Hier bestehen in einem falschen Ansatz erhebliche Fehlerquellen. Üblicherweise wird in der Dachebene eine horizontale Verschiebung angesetzt und iterativ erhöht.

Während die konventionellen Methoden kraftbasiert sind, ist die Kapazitätsbemessung verformungsbasiert.

Der Ablauf sieht die Berechnung des elastischen Tragsystems mit einer Verschiebeduktilität (Systemduktilität oder globalen Duktilität) vor. Die Bemessungs-Verschiebeduktilität bildet die Verschiebung ab, indem sie die Relation zwischen der Stockwerksverschiebung bei der Bemessungsduktilität und der Stockwerksverschiebung bei der Fließduktilität herstellt. Die Berechnung des Tragwerks mit der Ermittlung des Verformungsansatzes kann über eine Modalanalyse erfolgen. Daraus werden die elastischen Schnittkräfte ermittelt.

Der Verhaltensbeiwert, welcher die plastifizierten Bereiche betrifft und die Krümmungsduktilität, Rotationsduktilität, Dehnungs- oder Verzerrungsduktilität wiedergibt, ergibt sich im Rahmen der Berechnung und wird nicht manuell festgelegt. Gemäß der erwartbaren plastischen Verformungen bilden sich plastische Gelenke aus. Die Bemessung des Tragwerks erfolgt so, dass sich nach Ausbilden aller dissipativen Stellen als Fließgelenke eine kinematische Kette ausbildet. Die Höhe der zulässigen Belastung hängt folglich von der Ausbildung der Fließgelenke ab, sodass die Kapazität unabhängig von der Bemessungserdbebenstärke ermittelt werden kann. Die plastischen Bereiche sind entsprechend zu bemessen. Anschließend sind die elastischen Bereiche zu bemessen, indem die Einwirkungen mit einem dynamischen Vergrößerungsfaktor „auf Kapazität“ zu berücksichtigen sind, womit die effektive Erdbebeneinwirkung berücksichtigt wird.

Die Pushover-Analysis ist folglich eine statisch nichtlineare Berechnungsmethode. Denkbar sind mit erhöhtem Aufwand auch nichtlineare dynamische Zeitlaufrechnungen, bei welchen Beschleunigungszeitverläufe realer Bemessungserdbeben angewandt werden.

Grundsätzlich stehen folglich die nachfolgenden Bemessungsmethoden bei Erdbeben zur Verfügung:

– Lineare Analyse (Modalverfahren), in der vereinfachten Form unter Anwendung nur der ersten Eigenform als Lastansatz

– Nichtlineare statische Analyse (Kapazitätsbemessung, Pushover)

– Nichtlineare dynamische Analyse (Zeitverlaufsberechnung)

Im Falle eines Dachgeschoßausbaus ist in Wien – um praktisch zu werden – eine Erdbebenbemessung des Gebäudes vor und nach dem Umbau durchzuführen, bei welcher nachgewiesen werden muss, dass es durch die baulichen Änderungen zu keiner Unterschreitung des in der Norm vorgegebenen Erfüllungsfaktors kommt. Vergleichsgrundlage ist die Versagenswahrscheinlichkeit und das entsprechende personenbezogene Risiko. Der Erfüllungsfaktor beträgt nach Schadensfolgeklasse CC1 0,09, CC2 0,25 und CC3 0,85. Für die Schadensfolgeklasse CC2 müssen folglich 25% eines modernen Erdbebens aufgenommen werden können.

Literatur:

[1] Hugo Bachmann: „Erdbebengerechter Entwurf von Hochbauten – Grundsätze für Ingenieure, Architekten, Bauherren und Behörden“, Richtlinien des Bundesamtes für Wasser und Geologie, Bern 2002

[2] Adrian Pocanschi & Marios Phocas: „Kräfte in Bewegung: Die Techniken des erdbebensicheren Bauens“, Teubner Verlag, Wiesbaden 2003

[3] Konstantin Meskouris, Klaus-G. Hinzen, Christoph Butenweg & Michael Mistler: „Bauwerke und Erdbeben“, Teubner Verlag, Wiesbaden 2011

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