Nonlinear Engineering

Lineare Systeme sind Systeme, bei denen ein lineares, also proportionelles Verhältnis zwischen Eingangsreiz und Ausgangsreiz besteht. Die Nichtlinearität ist im Bereich des Bauwesens eine geometrische Nichtlinearität, welche von der Unverformbarkeit abrückt, sowie eine physikalische Nichtlinearität, die die Stoff- und Materialgesetze betrifft. Oftmals kommen beide Nichtlinearitäten zugleich zur Anwendung oder bedingen sich gegenseitig, indem etwa eine physikalische Nichtlinearität eine geometrische Nichtlinearität bedingt und umgekehrt.

Nichtlinearitäten treten aber auch im Bereich von Verbindungen auf. Eine lineare Modellierung von Verbindungen ist eine Hypothese, die vielfach nicht (mehr) tragbar ist und die die Ergebnisse nicht immer zugunsten der Sicherheit und schon gar nicht zu Gunsten der Effizienz ausfallen lässt. Ein nichtlinearer Ansatz ist folglich zunehmend eine Notwendigkeit, der allerdings tiefer reichende Reflexionen erforderlich macht.

Geometrische Nichtlinearität

Die Linearität zwischen Spannungen und Verformungen besteht nur an unverformten Tragwerken, während diese Proportionalität bei verformten Tragwerken nicht mehr gegeben ist. Eine Ausnahme bilden verformte Systeme mit annähernd unendlich kleinen Verformungen, was eine häufige Annahme in der Tragwerksplanung darstellt.

Stabilitätsprobleme sind hingegen Tragwerksverhaltensweisen, die das lineare Verhalten des Tragwerks überschreiten und bei denen die Verformung das Tragwerksverhalten ganz wesentlich bedingt.

Grundsätzlich sind Berechnungsmethoden, die die Stabilität unter Berücksichtigung der Theorie II. Ordnung am verformten System analysieren, effizienter und wirtschaftlicher als Stabilitätsanalysen am unverformten System, welche im Zuge der Bemessung die kritische Last ermitteln und folglich recht analog sind.

Beim Verzweigungslastproblem als Stabilitätsproblem wird davon ausgegangen, dass neben der unverformten Gleichgewichtslage eine infinitesimal benachbarte, ausgeknickte Gleichgewichtslage, besteht. Im Last-Verformungs-Diagramm kommt es zu einer Verzweigung. Die Rede ist dann von der kritischen Kraft oder Spannung, ab welcher es – theoriegemäß – zum Stabilitätsproblem kommt, weil neben dem stabilen Gleichgewicht ein labiles Gleichgewicht besteht.

Die Ermittlung der Schnittkräfte erfolgt am unverformten System. Für die Tragelemente wird sodann ein Stabilitätsnachweis am Ersatzstab (Ersatzstabverfahren) mit der Knicklänge nach der Knickfigur des Gesamtsystems durchgeführt.

Alternativ kann der Stabilitätsnachweis allerdings auch als Grenztragfähigkeitsnachweis nach Theorie II. Ordnung erfolgen, was – mittels moderner Bemessungsprogramme – eine effizientere Lösung bedeutet. Imperfektionen (Geometrische Imperfektionen wie Systemschiefstellung und Vorkrümmung, aber auch Eigenspannungen als strukturelle Imperfektionen) werden räumlich angesetzt.

Die Gleichgewichtsbedingungen werden am verformten System aufgestellt, wodurch Verformungsmomente entstehen. Vor Erreichen der Grenztragfähigkeit treten folglich (erhebliche) Verformungen auf. Der Stabilitäsnachweis reduziert sich dadurch allerdings auf ein Spannungsproblem, was vorteilhaft ist und die strikte Trennung zwischen Querschnittstragfähigkeit und Stabilität überschreitet. Die Verformungen und auch die Schnittkräfte fallen dadurch zwar höher aus, doch die Instabilität wird erst nach höherer Last erreicht, sodass Tragwerksreserven in Anspruch gesetzt werden.

Im Bereich von Schalen tritt die Instabilität auch in Form des Durchschlagens auf, bei welchem ein wesentlich abweichender Gleichgewichtszustand erreicht ist. Allerdings geht das Durchschlagen vielfach von physikalischen Nichtlinearitäten aus. Im Bereich der Schalen werden lokale Instabilitäten aber auch planmäßig zugelassen, um eine effiziente Berechnung zu bewerkstelligen.

Physikalische Nichtlinearität

Materialgesetze stellen das Verhältnis zwischen Verzerrungen und Spannungen her und stellen immer Annäherungen an das reale Materialverhalten dar. Zahlreiche Materialien basieren im konstruktiven Ingenieurbau auf einem elastisch-isotropen Materialverhalten, welches in Wirklichkeit allerdings nur begrenzt anwendbar ist.

Stahl, Aluminium und Beton haben in Wirklichkeit ein elasto-plastisches Materialverhalten: Ein anfänglich elastisches Verhalten schlägt bei höherer Belastung – im Stahlbau beim Fließen des Stahls, beim Betonbau durch das Rissverhalten, bei dem irgendwann einmal nur noch der Bewehrungsstahl die Tragfähigkeit ausmacht – in ein plastisches Verhalten über, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. Indem die elastische Grenze überschritten wird und bleibende Deformationen und auch Schädigungen akzeptiert werden, wird die Tragfähigkeit nach oben geschraubt.

Material-Nichtlinearitäten kommen in der Schädigungs-, Riss- und Bruchmechanik, in der Plastizitäts- und Fließtheorie sowie zur Abbildung zeitabhängiger Stoffmodelle (Viskoelastizität, Kriechen, Viskoplastizität) zur Anwendung.

In der Geotechnik sind – bei größeren Spannungen – nichtlineare Modelle sowieso alternativlos. Gleiches gilt aber auch für den Mauerwerksbau, wobei diskrete oder verschmierte Rissmodelle zur Anwendung kommen und gerade bei einem Gewölbe das Versagensverhalten grundsätzlich plastisch ist. Angesetzt werden dann Fließgelenke, womit theoretische Überlegungen zum effektiven Schädigungsmodell notwendig werden.

In jedem Fall zahlen sich nichtlineare Modellierungen aus, weil der linear-elastische Bereich in der Wirklichkeit nur sehr begrenzt anwendbar ist und unsere reale Welt mit Erreichen der elastischen Grenzen auch noch lange nicht versagt und kollabiert. Insbesondere auf Grundlage der Sicherheitstheorie können die Grenzen realitätsnaher angesetzt werden.

Die physikalische Nichtlinearität ist besonders auch in der Erdbebenbemessung, wo nicht Betriebslasten, sondern Schädigungslasten bemessungsrelevant sind, von Bedeutung. Es kommt auf die Grenzen der Robustheit eines Bauwerkes an. Im Erdbebenfall werden dabei im Falle eines größeren Erdbebens Schädigungen akzeptiert, solange das Kollabieren des Bauwerks verhindert wird und Menschenleben geschützt werden. Das Tragwerksverhalten wird dadurch realistisch abgebildet, wodurch deutliche Effizienzsteigerungen erzielt werden, die bei einer elastischen Betrachtung nicht erreicht werden können.

Nichtlineares Verhalten von Verbindungen

Bei Verbindungen wird im Allgemeinen ein lineares Verhalten zwischen Einwirkung und Verformung angenommen, welches allerdings eine grobe Verallgemeinerung darstellt. Der gelenkige Anschluss, der in der Tragwerksplanung eine gängige Vereinfachung darstellt, ist in der Wirklichkeit praktisch nicht möglich. Verbindungen sind immer irgendwo zwischen gelenkig und momententragfähig einzuordnen.

Weil das Verhalten der Verbindung von der angesetzten Last abhängt, ist der Mechanismus nichtlinear. Bis zu einer bestimmten Momenteneinwirkung wird sich die Verbindung momententragfähig erweisen, danach wird die momententragfähige Verbindung versagen und eine Rotation zulassen und folglich als Gelenk wirken. Setzt man dieses nichtlineare Verhalten in der Tragwerksplanung realistisch an, ist zumindest ein Teilmoment anrechenbar, sodass das Tragwerk effizienter geplant werden kann, weil sich die einzelnen Elemente nicht mehr wie Einfeldträger verhalten.

Im Stahlbau definiert die Momenten-Rotations-Charakteristik das Verbindungsverhalten und charakterisiert folglich das grundsätzliche physikalische Verhalten von Verbindungen. Gelenkige Verbindungen sind in der Praxis nämlich kaum möglich. Ein perfektes Gelenk müsste eine freie Rotation zulassen, was sehr selten möglich sein wird. Ebenso ist eine strikte Momententragfähigkeit kaum möglich und immer abhängig von der angesetzten Belastung . Folglich definiert die Momenten-Rotations-Charakteristik das nichtlineare Verhalten, das sich zwischen den Extremen gelenkig und biegesteif als nachgiebig anordnet. Das Verbindungsverhalten wird dabei über eine Drehfeder charakterisiert, welche einen nicht-linearen Verlauf hat.

Anfangsverformungen ergeben sich auch im Holzbau aus Schlupf und Passungenauigkeiten. Im traditionellen Holzbau spielt der Schlupf hingegen eine wesentliche Rolle zum Abbau von Spannungsspitzen, während Teilmomententragfähigkeiten nicht realistisch angesetzt werden können. Im modernen Holzbau sind Teilmomente aber sehr wohl realistisch ansetzbar und verbessern das Tragverhalten deutlich. Im Mauerwerksbau, wo ein Werkstoff berechnet wird, der nur auf Druck und kaum auf Zug wirkt, sind nichtlineare Annahmen wesentlich, die im Bereich der Verbindungen Fließgelenke bedingen.

Die Definition der Verbindungen eines Tragwerks bestimmt den Nachweis und die Bemessung entscheidend. Allerdings beeinflusst die Annahme der Verbindungen auch und vor allem die Tragwerksberechnung. Im Rahmen einer nichtlinearen Berechnung ändert sich der Ablauf. Eine Vorbemessung der Anschlüsse wird notwendig, um diese in einem realistischen Tragwerksmodell anzusetzen, zu berechnen und in der Folge erst im Detail nachzuweisen. In statisch unbestimmten Systemen bedingen die angesetzten Steifigkeiten nämlich die Schnittkräfte, sodass die Berechnung nur iterativ erfolgen kann.

Werden Verbindungen in der Tragwerksplanung im Rahmen einer elastischen Berechnung nach ihrer Rotationssteifigkeit klassifiziert, ist von gelenkigen, biegesteifen und nachgiebigen Verbindungen die Rede. Bei einer starr-plastischen Berechnung, die als Fließgelenkberechnung erfolgt, welche das elastische Verhalten zwischen den Fließgelenken vernachlässigt, erfolgt die Einteilung nach der Tragfähigkeit in gelenkige, volltragfähige und teiltragfähige Verbindungen. Bei einer elastisch-plastischen Berechnung, bei welcher die Schnittgrößen nach der Elastizitätstheorie und die Beanspruchbarkeiten nach der Plastizitätstheorie ermittelt werden, sind die Verbindungen sowohl nach ihrer Steifigkeit als auch nach ihrer Tragfähigkeit in gelenkig, biegesteif und volltragfähig und im Zwischenbereich nachgiebig und teiltragfähig, nachgiebig und volltragfähig oder biegesteif und teiltragfähig zu klassifizieren.

Eine plastische Berechnung im Stahlbau ist nur dann zulässig, wen die Querschnitte über eine ausreichende Rotationskapazität verfügen und gegen Instabilität aufgrund plastischer Gelenke gesichert sind.

Bei der Berechnung von Tragwerken ist folglich grundsätzlich die Momenten-Rotations-Charakteristik zu berücksichtigen, insofern diese zulässig und nicht vernachlässigend klein ist. Zwar erhöht die nichtlineare Berechnung den Rechenaufwand, doch wird die Konstruktion im Endeffekt optimiert und folglich wirtschaftlicher. Die Steifigkeit der Verbindung bestimmt grundsätzlich die Schnittgrößenverteilung, sodass ein wechselseitiges Verhältnis gegeben ist.

Nonlinear Engineering

Die Nichtlinearität, das Überwinden der Linearität und der linearen Welt, ist nicht nur ein Weg, um Baumaterialien deutlich effizienter einzusetzen und damit einen wesentlichen Beitrag für eine ökologische Welt zu leisten.

Die Nichtlinearität ist eine Überzeugung, die im Sprengen von Konventionen und Mustern sowie des konventionellen Planens und Bauens besteht und sich in der Überwindung herkömmlicher Baumaterialien und Baustoffe äußert, stattdessen zur permanenten Innovation, zu neuen Werkstoffen, zu werkstoffübergreifenden Planungsmethoden und zu neuen Tragsystemen tendiert.

Es geht vor allem um die Freiheit des Denkens, um die Kreativität der Gestaltung, um den prinzipiellen Gegenentwurf zur Uniformität und Konformität, um die Entfesselung geistiger Energie und letzten Endes um bessere Umgebungen. Ein offener Ansatz setzt sich keine Denkgrenzen, sondern sucht individuell die besten Lösungen und scheut dabei auch keine neuen Wege.

Tragwerksplanung muss heute strikt digital und strikt dreidimensional sein. Darin besteht der Fortschritt. Dadurch lassen sich Ergebnisse und Prognosen visualisieren und schnell Rückschlüsse ziehen, aber auch Änderungen in Echtzeit durchführen. Um die digitale Welt in der wirklichen Welt rückzubinden, sind Plausibilitäts- und Kontrollrechnungen unerlässlich, also eine Erdung in der Natur der Dinge, aber auch ein Zugang zur Welt „da draußen“, außerhalb der Fachwelt.

Ingenieurwesen auf der höhe der Zeit ist nichtlinear, hybrid und dynamisch.

Literatur:

[1] Erwin Stein: „Nichtlineare Berechnungen im Konstruktiven Ingenieurbau“, Springer Verlag, Berlin 1989

[2] Christian Petersen: „Statik und Stabilität der Baukonstruktionen Elasto- und plasto-statische Berechnungsverfahren druckbeanspruchter Tragwerke: Nachweisformen gegen Knicken, Kippen, Beulen“, Vieweg Verlag, Wiesbaden 1982

[3] Mike A. Crisfield, René De Borst, Joris J. C. Remmers: „Nichtlineare Finite-Elemente-Analyse von Festkörpern und Strukturen“, Wiley Verlag, Weinheim 2016

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