Wir kennen ihn alle. Diesen „besonderen“ Ort. Alles ist an seiner Stelle. Nichts könnte entfernt werden, ohne dass das Ganze gefährdet werden würde. All das Hinzugefügte müsste sich demütig in den Dienst des Gesamtbildes stellen [1]. Es ist dieser „Geist des Ortes“, der unbeschreibbar, unerklärbar und doch so drängend erscheint. Man könnte von „Heimat“ sprechen.
In der römischen Mythologie bezeichnete der „Genius Loci“ den Geist eines Ortes. Der Ort wurde folglich als etwas Heiliges verehrt und mit einer bestimmten Spiritualität gleichgesetzt. Die Geister wurden im Kult verehrt. Ursprünglich war die römische Mythologie stark an den Ort und die Natur gebunden. Mit der Übernahme der griechischen Götterwelt wurde das Heilige fortan mehr und mehr vom Territorium getrennt, wobei diese als Geister fortlebten. Vielleicht war mit dem Umstand, dass man den „neuen“ Götter auch in fremden Ländern huldigen konnte, die Grundlage für das römische Imperium gelegt.
Immer wieder wird der Ort mit dem „Heiligen“ gleichgestellt, es werden so genannte „heilige Orte“ in Anspruch gestellt. Heute ist vielfach von „Kraftorten“ die Rede, wobei sich selbstverständlich die Frage stellt, was es mit diesen Kräften auf sich hat. Kraftorte, das waren und sind besondere Felsformationen, Bäume und Wälder, Pflanzen, Gewässer oder ganz einfach die Atmosphäre einer bestimmten räumlichen Konstellation. Zu vorchristlicher Zeit markierten die Menschen die Erhöhungen und Berge, also jene Orte, wo sie sich dem Himmel und den Ahnen näher fühlten, mit Steinskulpturen oder mehr oder weniger archaischen Tempeln.
Wahrscheinlich greifen dann, wenn uns ein Ort berührt, bestimmte Emotionen ineinander. Es wirkt die Phänomenologie der Landschaft und des Ortes in uns. Faktisch passiert sehr viel mehr: Erinnerungen werden wach; Erwartungen einer scheinbar „besseren“ Zeit rufen sich uns in Erinnerung; zerplatze Träume werden bewusst; aber auch die schöne alte Zeit, in welcher vermeintlich alles in Ordnung war, wo unsere Familie und unsere Kindheit ihre Obhut fanden, nach der wir nachtrauern, die wir betrinken und die wir in unserem Herzen behalten. Die Stunden, die nie wieder kommen. Die Affekte, im Schlechten wie im Guten.
Diese Emotionen sind zwar in uns. Doch unser Geist ist zu schwach, um diese in Erinnerung zu behalten. Diese Emotionen haften am Ort. Und schießen in uns, sobald uns der Ort an die schönen Zeiten erinnert. Entweder „der“ Ort. Oder irgendein Ort, der die qualitative Gabe der Erinnerung hat.
Geht es nach dem französischen Philosophen Gaston Bachelard, so sind unsere Sehnsuchtsorte die Orte „verdichteter Zeit“ [2]. Es sind die Orte, in welchen viel von unserer Zeit steckt. Das sollte man nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ werten.
Eine beeindruckende Hommage an den „Genius Loci“ schreibt der herausragende Schweizer Architekt Valerio Olgiati, mit den folgenden Worten.
Valerio Olgiati (Link)
»essenzen. das wesentliche, was den ort ausmacht. der widerspruch in sich. der ort. physikalisch. klar bestimmt. durch seine grenzen. die essenz. flüchtig. fliessend, strömend, entschwindend. subjektiv wahrge-nommen. der ort materiell, die essenz immateriell.
die essenz des ortes erfühlen. jeder ort hat seine eigene befindlichkeit, seine spezielle identität, geprägt von den angrenzenden, durchströmenden nutzungen, von den menschen, die ihn aufsuchen, beleben. geprägt von den spuren der vergangenheit. der ort ist gebunden, nicht übertragbar, sowenig wie architektur kopierbar, transportierbar ist. der ort gibt vor, was er verträgt. es ist alles schon gegeben, vorhanden, es muss aufgenommen werden, übersetzt in andere zeichen, sichtbar gemacht werden.
die materialisierung der essenz. der gedankenhauch. flüchtig, schwebend, ätherisch. nicht fassbar. wird zum bild. das bild zum gebauten raum. an diesem einen. ort. die essenz sichtbar, spürbar, erlebbar gemacht.«
Literatur:
[1] Christian Norberg-Schulz: „Genius Loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst“, Klett-Cotta, Stuttgart 1982
[2] Gaston Bachelard: „Die Poetik des Raumes“, Hanser Verlag, München 1975
Das obige Zitat stamm nicht von Olgiatti sondern von Regina Schineis (Ausgburg).
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