Salurn – ein wesentliches Stück Südtiroler Unterland

Eine sichtbare und eine verborgene Zeit, die sich meistens nur dem aufmerksamen Beobachter erschließt. Doch Tiefgang zahlt sich – wie immer – aus. Wer an der Oberfläche verbleibt, überblickt nur einen unwesentlichen Teil des Ganzen.

Salurn. Karge und dramatische Felsenwände. Das Etschtal verengt sich an der Klause, Fennberg und Geiersberg bilden die Talenge. Die Etsch, die ihren Weg vom Vinschgau in das Adriatische Meer findet, schlängelte früher durchs versumpfte Tal. Heute mag die Etsch vielmehr an einen Kanal erinnern, durch Dämme zu beiden Seiten gesichert und eingeengt. Dort, wo früher regelmäßig Überschwemmungen ans Land traten, sind heute – durch mühsame Meliorierungen bedingt – fruchtbare Wein- und Obstgärten angelegt. Jedes Stück Land hat seine eigenen, historisch gewachsenen Namen, die eine Geschichte erzählen, aber auch geologische Gegebenheiten bezeichnen.

Ebenso wie die Etsch zieht die Brennerautobahn rauschend durchs Land. Jährlich sind es unzählige tausende Kraftfahrzeuge, die durch das Tal fahren – mit all den positiven, aber auch negativen Konsequenzen der Mobilität. Für viele Durchreisende mag es sich beim Südtiroler Unterland um eine hübsche Kulisse am Weg in Richtung Süden handeln, die sich dem Entdeckenden wohl erst auf den zweiten Blick erschließt.

Vielleicht sind es künftig aber besonders die touristisch weniger „entwickelten“ Gebiete, die die Aufmerksamkeit finden, die sie sich verdienen, weil sich Authentizität und Ursprünglichkeit stärker gegenüber dem Massentourismus auszeichnen. Wichtig ist dazu, dass es Attraktionen und Unternehmungen vor Ort gibt, lokale und regionale Kreisläufe. Die Menschen suchen das Echte und keine Retorten.

Die Berge formen das Land. Die südlichen Kalkalpen mit ihren weißen Fassadenflächen, die je nach Lichteinstrahlung blau oder gelb bis rot leuchten. Einst durch Sedimente entstanden und durch die Gletscherschmelze geformt, bilden die Felsenwände einen räumlichen Rahmen. Etwas weiter nördlich wurde die – unter der Kalkschicht liegende – Porphyrgranit, der so genannte „Bozner Porphyr“ wieder nach oben gehoben, sodass sich die Trudner Linie bildet, die das dunkle Gestein vom hellen Gestein trennt. Irgendwo zwischen Buchholz und Gfrill verläuft die Trudner Linie auf Salurner Gemeindegebiet.

Das Etschtal selbst besteht aus mehreren hunderten Metern an feinkörnigem Erosionsmaterial und aus grobkörnigen Sanden und Kiesen. Geotechnisch problematisch erweisen sich die feinkörnigen Böden, wie sie überall dort entstehen, wo das Hochwasser die feinsten Körner sedimentiert, und die sich durch starkes Setzungsverhalten auszeichnen und deren Festigkeitseigenschaften besonders vom Wasser abhängen.

Dass man Baugründe mit feinkörnigem oder nichtbindigem Boden historisch betrachtet vermieden hat, liegt auf der Hand. Die klassischen Siedlungsformen gründen auf felsigen Terrassen oder auf den grobkörnigen Schuttkegeln der Wildbäche. Durch ihre reißerischen und saisonal bedingten Kräfte lagern Wildbäche auch grobkörniges Material ab, das sich als guter Baugrund erweist. „Auf Sand bauen“ ist grundsätzlich kein Fehler, insofern die Lagerungsdichte des Bodens nicht zu gering ist.

Die Wildbäche sowie die steilen Hänge bilden grundsätzlich die hydrogeologische Gefahr, die immer wieder zu Überflutungen, zu Rutschungen und zu Murgängen führen. Leben im alpinen Gelände ist immer eine dynamische Angelegenheit und erfordert eine besondere Sensibilität für Risiken und Gegenstrategien. Vielfach sind es die steilen Hänge, die durch größere Wassermassen instabil werden und entsprechend sensiblen Umgang und Prävention erfordern.

Den Schuttkegel bildet in Salurn der Titschenbach, der durch den Salurner Wasserfall eine Fallstrecke findet und sodann in Richtung Etsch führt. Unweit ist die Haderburg gelegen, eine kühne Burganlage an der Salurner Klause, gebaut aus dem umliegenden Gestein, deshalb zu manchen Tag- und Jahreszeiten gar nicht erkennbar. Die Haderburg ist auch jene Felsenburg, die auch in Robert Musils literarischem Werk ihre Anerkennung findet, zusammen mit Drachen, Hirschen und Wölfen, die vermeintlich im Salurner Wald hausen.

Die Wälder selbst sind durch eine einzigartige Südtiroler Vielfalt gekennzeichnet, die durch die südliche Lage bedingt ist und den Naturpark Trudner Horn ausmachen. Und so finden sich Mischwälder, Buchen, Eichen, Eschen und – als Exoten – die Stechpalme und die Eibe. Weiter oben geht die Vegetation in Richtung Fichten, Tannen und Lärchen über.

Die Baukultur an diesem Schnittpunkt der Kulturen ist geprägt durch südliche und nordische Formen. Steinbau und Holzbau wechseln sich im vernakulären Bauen ab. Hinzu gesellen sich die architektonischen Hochstile, die einmal so und einmal anders ausfallen sollten.

Bauem im alpinen Raum ist immer eine höchst sensible Angelegenheit. Das Bauwerk wird Teil der Landschaft und die Landschaft gehört uns allen. Jeder Eingriff in das Ökosystem erfordert ein hohes Maß an baulicher Qualität. Bestenfalls sind auch neu gebaute Bauwerke unverkennbar mit dem Ort verwachsen. Die Vorbilder gibt es auch beim neuen Bauen.

Die Pfarrkirche am Hauptplatz von Salurn, romanischen und gotischen Ursprungs, mit einer Renaissance-Fassade, erinnert an südlichere Gegenden. In krassem Kontrast zu dieser vielleicht südlich anmutenden Fassade steht der schattige und bittere Winter, der nördliche Atmosphären birgt.

Ausgehend vom Ortskern wurden historisch in der Siedlungsgeschichte im Hochmittelalter die steilen Hänge besiedelt. Die Besiedlung der Hänge mit Höfen, weit über den damaligen Ertrag hinaus, die selbst die Schattenseiten erfasste, zeugt von der intensiven Durchdringung durch Bauern aus dem Norden und durch die Grafen von Tirol, die Salurn 1222, also weit früher als die umliegenden Gebiete, in ihren Machtraum übernahmen und entsprechend ausbauen sollten.

Renaissance-Paläste in Salurn zeugen von wohlhabenden Familien, die einst Salurn ihre Heimat nannten, die mit Wein handelten und von der strategischen Lage an diesem Durchzugsort profitierten; die später aus den Tallagen flüchteten, als das Sumpffieber sie erfasste und damit den Raum schuf, damit Siedler aus den Welschtiroler Tälern nachziehen konnten.

Weiter oben, etwas erhaben und abseits vom Rest, findet sich der heimatliche Labdrischhof, der „mein“ persönliches Salurn kennzeichnet. Eine Welt für sich; eine Welt der Erinnerung, des Lebens, der Gefühle und der Wärme.

Vielleicht hat man als Bauingenieur einen „besonderen“ Zugang zum Land. Weil man das Gebaute im Land in seiner Struktur analysiert und zu lesen versucht. Weil Felsen, gewachsener Boden und Wasser, Wind und Schnee, Schwerkraft und Erdbeben als bestimmende Faktoren aufgefasst werden, die – beim richtigen Verständnis – nicht nur Hindernis und Risiko sind, sondern Raum zur Gestaltung lassen. Wer diesen Raum wahrnimmt und mühsam erkämpft, schafft Herausragendes.

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