Archaische Nostalgie
Mit dem Fahrradfahren ist es vielleicht ein klein wenig wie mit dem Bergsteigen: Um die Erstbesteigung von Berggipfeln ranken sich die modernen Heldensagen und auch Mythen. Der Bergsteiger war von Geologie, Natur, Wetterverhältnissen, der eigenen Körperlichkeit, Erfahrung, Können und vom eigenen Mut abhängig. Je nachdem, wie er sich in der kargen Natur zu helfen wusste, war seine Kühnheit von Erfolg gekrönt, der bis heute hin anhält.
Mit dem Fahrrad war es dann ein folgenächster Schritt im so genannten Prozess der „Zivilisation“: Weiter weg von der ursprünglichen Natur, vom Bau von Straßeninfrastruktur einerseits und von modernem Gerät andererseits abhängig, jedoch noch immer der Natur und der eigenen Körperlichkeit ausgeliefert. Die Heldensagen sind ein wenig moderner. Zur Schönheit der Natur kommt die Ästhetik der Maschine hinzu, die allerdings noch immer nicht von externer Energie in Form von Kraftstoff, sondern von der eigenen körperlichen Energie abhängt.
Infolgedessen ist die Erfahrung immer noch archaischer als beim Automobil, das den Übergang in die Herrschaft der Technik markiert.
Radfahren ist in diesem Sinne Nostalgie. Wir denken an „Tour de France“ und „Giro d’Italia“, an die Bergetappen und an die „heldenhafte Eroberung“ der Gipfel durch den Fahrradfahrer im Wettkampf – ein Heldenepos der modernen Zeit. Bedingt durch den Rausch der Geschwindigkeit, ermöglicht durch die Maschine, angetrieben nicht durch externe Energie, sondern durch Muskelkraft und Schweiß. Indem wir uns auf das Fahrrad schwingen, fühlen wir mit und bilden uns vielleicht auch ein, Vergleichbares zu leisten.
Erfahrbarkeit der Umgebung

Fahrradfahren macht eine Landschaft direkt erfahrbar. Durch die „Entdeckung der Langsamkeit“ können Geologie, Natur, Kulturlandschaft, Baukultur und Kulinarik direkt erfahrbar gemacht werden. Die Landschaft „muss“ aber auch eine entsprechend hohe Informationsdichte bieten, um befahren zu werden. Während wir im PKW bereit sind, hunderte Kilometer an Autobahnen zurückzulegen, um dann „endlich“ an ein Ziel zu kommen, an dem es am besten weder Fahrzeuge, noch Autobahnen, noch Straßen gibt, sind unsere Anforderungen an das Wandern oder das Radfahren andere.
„Das Flächenverhältnis der Erreichbarkeit, von Fußgehern : Radfahrern : Autofahrern liegt bei 1 : 10 : 100. Der Rauminhalt einer Siedlung für Fußgeher muss daher rund 100-mal höher sein als der einer autoorientierten Struktur“ schreibt Knoflacher [1]. Für den Autofahrer reicht eine Information alle paar hundert Meter, für den Fahrradfahrer alle 10 Meter, während der Fußgänger alle paar Meter eine Information oder Attraktion oder einen Reiz benötigt.
Am meisten entdeckt natürlich der Fußgänger. Er ist am anspruchsvollsten bei seinen Umgebungen. Andererseits kann der Fußgänger keine Entfernungen zurücklegen, die 20 bis 30 Kilometer am Tag übersteigen. Demgegenüber ist der Fahrradfahrer zwar schneller unterwegs und nimmt durch die Geschwindigkeit seine Umgebung weniger wahr, erreicht allerdings einen größeren Radius – und erkauft durch die Geschwindigkeit einen größeren Erlebnisraum.
Vielleicht ist der Fahrradfahrer im Vorteil. Er kann sich größere Räume aneignen. Fahrradfahren ist gegenüber dem reinen Gehen vielleicht auch ein weiterreichendes „Erlebnis“. Die körperliche Anstrengung ist – beim Fahren mit fortgeschrittenen Geschwindigkeiten, im Gegenwind oder bei Steigung – größer. Und vielleicht dann auch die „Belohnung“ durch die äußeren Reize und die körperliche Genugtuung.
Wesentlich ist allerdings, dass das Automobil sich durch externe Energie speist. Diese kostet zwar Geld, aber keine Muskelkraft. Beim Wandern, Gehen oder Radfahren werden wir durch die Umgebung und Natur „belohnt“, die in der Folge „etwas bieten“ müssen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Regionen, die durch eine ausgesprochene Naturschönheit gekennzeichnet sind – dies trifft auf die Alpen sowie auf Südtirol im Besonderen zu – für den sensiblen Tourismus, wie ihn Fahrradfahren sowie Wandern darstellen, zunehmend attraktiv werden.
Moderne Infrastruktur
Fahrradfahren ist en vogue. Nicht zuletzt durch die Klimadebatte hat sich das Fahrradfahren als nachhaltiger „Livestyle“ entwickelt. Ganze Städte werden mit Fahrradinfrastruktur umgeplant [3]. Von Radwegen, Fahrradbrücken über Fahrradgaragen – mit der dazugehörigen Umgebungsgestaltung. Hinzu kommt durch das elektrische Fahrrad oder E-Bike die Möglichkeit, größere Räume und steilere Berge mit weniger körperlichem Aufwand zu erreichen. Ein überzeugender Vorteil.
Auf alpine Regionen wie Südtirol bezogen ist das Mountainbiken ein Naturerlebnis der Extraklasse, weil damit die rohe Natur zugänglich gemacht wird und der Fahrradfahrer unwegsamem Gelände, wildem Gewässer und roher Geologie ausgesetzt ist.
Überall dort, wo der Mensch seine körperliche Energie einsetzt, ist dieser – darauf gründet die Natur im Allgemeinen – auf Energieeinsparung fokussiert. Jeder Einsatz von Energie muss sich durch Vorteile bezahlt machen. Jeder Aufwand muss sich „auszahlen“. Wo der Aufwand zu groß ist, ist es der Einsatz unserer Energie nicht wert.
Fahrradinfrastruktur, die die effiziente Nutzung ohne Umwege und ohne sinnlose Aufwände zulässt, ist folglich ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Jede Unterbrechung eines Fahrradnetzes ist ein Aufwand, der die Befahrbarkeit beeinträchtigt.
Anforderungen an Freizeitrouten im Fahrradverkehr sind [2]:
– hohes Sicherheitsbedürfnis (befahren mit verringerter Aufmerksamkeit, fahrbar für
Familien mit Kindern);
– attraktive Umgebung, abseits des Hauptverkehrs;
– keine Belästigung durch andere Verkehrsteilnehmer (Stress, Lärm etc.);
– sinnvolle Beschilderung, Verfügbarkeit von Karten und Plänen;
– kindergerechte Anlage und Absicherung an Knoten.
Hinzu kommen die begleitenden Maßnahmen: „Bauliche Infrastrukturmaßnahmen sind eine Voraussetzung für funktionierenden Radverkehr. Radverkehrsförderung muss darüber weit hinausgehen und ganzheitlich betrieben werden. Neben den baulichen Maßnahmen (Anlagen für den Radverkehr, Öffnung der Einbahnen, bewachte Parkhäuser, Bike & Ride, Abstellanlagen etc.) müssen verschiedene organisatorische und verkehrspolitische Maßnahmen („Soft Policies“) umgesetzt und muss Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden. Erst wenn der Radverkehr im Bewusstsein aller Akteure (Politiker, Interessenvertretungen, Handel, Gesundheitswesen etc.) verankert ist, wenn ein „fahrradfreundliches Klima“ herrscht, ist mit einer nennenswerten Bedeutung des Fahrrads (Wegeanteil) zu rechnen“ [2].
Die Verfügbarkeit einer differenzierten Fahrradplanung als Gesamtkonzept, von fahrradfreundlichen Unterkünften, öffentlichen Verkehrsmitteln für den Fahrradverkehr sowie von Rastplätzen mit einem kulinarischen Angebot erhöhen die Attraktivität deutlich. Es liegt an einer gesamtheitlichen Ausrichtung und nicht an (unkoordinierten) Einzelmaßnahmen.
Literatur:
[1] Hermann Knoflacher: „Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung“, Böhlau Verlag, Wien 2007 und 2012
[2] Michael Meschik: „Planungshandbuch Radverkehr“, Springer Verlag, Wien 2008
[3] Gerd Steierwald, Hans Dieter Kiinne & Walter Vogt (Hrsg.): „Stadtverkehrsplanung – Grundlagen, Methoden, Ziel“, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2005