Effizienz in der Tragwerksplanung und beim Bauen im Bestand

In der Tragwerksplanung geht es um die Abbildung einer idealisierten und vereinfachten Wirklichkeit. Dabei ist es Usus, konstruktive Elemente auf der sicheren Seite liegend, abzubilden. Diese Vorgangsweise schlägt sich nicht immer zu Gunsten der Effizienz aus. Oder anders gesagt: Die Recheneffizienz ist durch derartige Vereinfachungen gegeben, die Materialeffizienz nicht. Nun mag diese Überdimensionierung beim Neubau nicht immer ins Gewicht fallen, obwohl die derzeitigen Bau- und Materialpreise ein Umdenken bewegen, bei der Bewertung des Bestandes geht es allerdings ans Eingemachte. Das bestehende Tragwerk verstärken – oder nicht – geht im Sinne einer Projektentwicklung im Bestand ins (finanzielle) Gewicht.

Gerade beim Bauen im Bestand geht es folglich darum, das Tragwerk mit seinen Belastungen, aber auch mit seinen Widerständen möglichst realitätsnah abzubilden. Die andere Schlagseite der wenig realitätsnahen Bewertung ist nämlich nicht ein finanzieller Mehraufwand durch Überdimensionierung, sondern eine potentielle Überschätzung des bestehenden Tragwerks, welche folgenschwere Konsequenzen haben kann. Vielfach fehlen am Anfang die Zeit sowie die „Lust“ und das Geld, den Bestand – und auch den Baugrund – im Detail zu untersuchen. Die Abschätzung erfolgt potentiell falsch, die Folgen gefährden die bauliche Substanz sowie das Menschenleben und die Zeit sowie das Geld übersteigen ein Vielfaches dessen, was für ordentliche und sachgemäße Untersuchungen notwendig gewesen wäre. Detaillierte Untersuchungen verhindern Überschätzung sowie Unterschätzung und sind für eine termingerechte Projektplanung mehr als wesentlich. Pfusch und Sparen am falschen Ort zahlen sich nie aus.

Die Statik des Mauerwerks sowie gemauerter Gewölbe sind eine Wissenschaft für sich. Natürlich kann die effektive Tragfähigkeit des Mauerwerks außer Acht gelassen werden, indem erwartbare Werte, die nicht einmal auf einem Studium des Mauerwerksverbandes beruhen, sowie darüber hinaus auch noch völlig fehlerhafte Versagenskriterien angesetzt werden, angenommen werden. Selbstverständlich hat man vieles bereits oft so gemacht und oft – oder bisher fast immer – mag es auch gut gegangen sein. Derartige Annahmen haben mit „Ingenium“ aber sehr wenig zu tun. Selbstverständlich kann ein Gewölbe sehr hohe Lasten aufnehmen und auf Druck senkrecht zum Stein fast nicht versagen. Der Tragwerksplaner muss sich allerdings im Klaren darüber sein, wie sich ein potentielles Tragwerksversagen einstellt und entsprechende Gegenmaßnahmen treffen.

Man muss sich natürlich in Erinnerung behalten, dass sich das moderne Bauen auf völlig andere Sicherheitsniveaus stützt als das historische Bauen, das vielfach durch Versuch und Irrtum gekennzeichnet war, was wir uns heute natürlich nicht mehr leisten können. Insofern Änderungen an den Tragstrukturen zu erwarten sind, ist das Rechnen mit alten Strukturen und neuen Normen selbstverständlich problembelastet. Allerdings gibt es Tragwerksreserven im Bestand, die erst einmal untersucht werden müssen, bevor Abriss oder Teilersatz folgen.

Es geht dann aber auch um einen ehrlichen Umgang mit dem historischen Bestand. Gerade in der Architektur laufen etliche Diskussionen um den Erhalt der Baukultur und des historischen Bestandes. Die Antworten auf einfache Fragestellungen divergieren weit und manches, was Mode ist, ist letzten Endes nicht der Weisheit letzter Schluss. Derartige durchaus philosophische Fragestellungen eröffnen sich allerdings auch in der Tragwerksplanung, wo es ja am Elementarsten um die bauliche Substanz und um die natürlichen Kräften geht. Um zum Gewölbe zurück zu kommen: Einfach das bestehende Gewölbe zum Schein belassen und im Wesen durch eine anderweitige Tragstruktur aus Stahl und Beton ersetzen, ist die am wenigsten nachhaltigste und am wenigsten ehrlichste Lösung.

Gleiches trifft auf die historische Holzbalkendecke zu. Wenn diese durch Tragglieder aus Stahl, Beton oder Stahlbeton effektiv ersetzt wird, dann trägt sie nicht mehr, wird ihrer Bedeutung beraubt und ist höchstens noch der schöne Aufputz. Gleiches gilt dann, wenn das historische Holztragwerk mit seinen zimmermannsmäßigen Verbindungen durch Stahlglieder „ersetzt“ wird. Das Problem ist wie immer – und der Mathematiker Gunter Dueck erläutert es klar -: Lösungen, die „dumm einfach“ sind, sind um ein Vielfaches schneller zu bewerkstelligen, als Lösungen, die „genial einfach“ sind, aber vorher komplexe Überlegungen und Studien erforderlich machen. Folglich gibt es „einfachere“ (also weniger zeitintensive) und weniger komplexe Lösungen anstatt den historischen Bestand und die Natur der Dinge zu erforschen, Tragwerksreserven im Bestand herauszuarbeiten und den Bestand punktuell zu unterstützen, um diesen schlussendlich als Ganzes zu erhalten und zwar mit seiner Tragfunktion.

Der Bauingenieur Stefan Holzer, der sich an der ETH Zürich mit historischen Tragwerken befasst, hält besonders in Bezug auf Holzstrukturen fest: „Speziell auf den historischen Holzbau bezogen bedeutet „realitätsnahe Berechnung“ vor allem die Berücksichtigung der Nachgiebigkeiten der Anschlüsse. Um die Nachgiebigkeit eines Anschlusses rechnerisch berücksichtigen zu können, müssen Details zu Anschlusstyp, Anschlussgeometrie und eventuellen Klaffungen bekannt sein. Diese Daten müssen bei der Bauaufnahme – individuell für jedes Gespärre – erhoben werden“ [1].

Holzer schlägt vor, Verbindungen im Holzbau im Bestand unbedingt als teilweise nachgiebig zu modellieren. Zwar sind Teileinspannungen für die Momentenbeanspruchung aufgrund der geringen Hebelsarme nicht zielführend, um nennenswerte Widerstände zu erzielen, allerdings bewirkt die Nachgiebigkeit in Stabachse in Form einer elastischen Feder Normalkraftumlagerungen, die bei der Bewertung des historischen Bestandes darüber entscheiden können, ob das historische Tragglied unverstärkt bleiben kann oder nicht. Nachgiebigkeiten in Richtung der Querkraft fallen hingegen kaum ins Gewicht, weshalb die starre Annahme beibehalten werden kann. Die Federkraft kann über erwartbare oder annehmbare Verformungen in Relation zu den Schnittkräften am starren System ermittelt werden. „Eine Berücksichtigung der Strebenneigung erübrigt sich wegen der geringen Abhängigkeit der aufnehmbaren Kraft vom Winkel“ [1].

In diesem Sinne wird das Prinzip zunutze gemacht, dass sich in statisch unbestimmten Systemen durch Nachgiebigkeiten Schnittkräfteumlagerungen einstellen. Unsere realen Systeme sind immer hochgradig statisch unbestimmt, weil sich dadurch eine bestimmte statische Robustheit baupraktisch umsetzen lässt. In statisch bestimmten Systemen sind die Auflager- und Schnittkräfte allein mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen berechenbar. In statisch unbestimmten Systemen sind darüber hinaus die Elastizitätsgleichungen notwendig. Dadurch hängen die Schnittgrößen von den vorhandenen Steifigkeiten ab, die mit der angenommenen Nachgiebigkeit geringer ausfallen. Das Ansetzen von Nachgiebigkeiten verändert folglich die statische Berechnung und ist in allen Fällen – und gerade im Holzbau, sowie im historischen Holzbau mit Verbindungen, die mit Schlupf reagieren – realitätsnaher als die Annahme unnachgiebiger elastischer Gelenke.

Fälschlich angesetzte Unnachgiebigkeiten können das gesamte Tragverhalten verfälschen und einen Zugstab annehmen, wo eigentlich gar keine Kraft wirkt.

In diesem Sinne schreibt Holzer: „Auf jeden Fall irreführend und daher abzulehnen ist eine Modellierung der zimmermannsmäßigen Holzverbindungen als ideale, nicht nachgiebige Gelenkanschlüsse. Solche Modelle führen
fast zwangsläufig zu lokalen Überlastungen, die sich in einem nachgiebig gefügten System sofort durch Umlagerung abbauen würden“ [1]. Und weiter: „Dennoch dominieren in der alltäglichen Praxis der statischen Beurteilung historischer Tragwerke auch heute noch Modelle mit starren Knoten, also Modelle, die den mehr als ein halbes Jahrhundert alten Wissensstand widerspiegeln. Der Grund dafür ist vermutlich das Fehlen geeigneter, schnell greifbarer Anhaltswerte für die anzusetzenden Steifigkeiten, denn die Formeln (…) sind oft mühsam auszuwerten, wofür in der Praxis der Beurteilung historischer Tragwerke oft Zeit und Geld fehlen“.

Allerdings ist jede angesetzte Nachgiebigkeit, auch in der falschen Größenordnung, realitätsnaher als das Rechnen mit elastischen Federn. Die Nachgiebigkeit muss zumindest in unterschiedlichen Federkennlinien für Druck und Zug bestehen. In der Konsequenz führt die angesetzte Nachgiebigkeit zu einer Umlagerung von Spannungsspitzen und folglich zu einer ausgeglicheneren Tragwerksbelastung, somit zu einer effizienteren Tragwerksplanung. Wenn es hingegen auf mehr Material und mehr Baukosten nicht ankommt, dann können es natürlich auch weniger raffinierte und zeitgemäße Lösungen sein und das hier Gesagte ist irrelevant. Entsprechend niedrig sind dann aber auch der Anspruch an die Baukultur, die nicht nur in den Oberflächen, sondern vor allem in der Substanz besteht.

Ein weiterer Punkt des Anstoßes betrifft dann auch noch die angenommene Holzfestigkeit. Die Holzfestigkeitsklassifizierung erfolgt bekanntlich und normgemäß für Nadelholz in den C- und für Laubholz in den D-Kategorien, wobei die nachfolgende Zahl die charakteristische Biegefestigkeit (5 %-Quantilwert, wird zu 95% überschritten) in N/mm² angibt. Für die Festigkeitsklassifizierung ist grundsätzlich die optische Klassifizierung vorgesehen. Ohne weitergehende Anforderungen ist die Verwendung von Bauholz der Festigkeitsklasse C24 baupraktisch üblich, während höhere Festigkeitsklassen erst einmal verfügbar sein müssen.

Untersuchungen an historischen Holzkonstruktionen belegen allerdings, dass die optische Klassifizierung die mechanischen Eigenschaften des Bauholzes unterschätzt, indem vielfach die Klassifizierung in C24 erfolgt, obwohl gemäß anderweitiger Klassifizierungsmethoden eine höhere Festigkeitsklasse erreicht wird. Die Schalluntersuchung sowie der 4-Punkt-Biegeversuch bieten Alternativen, die tendenziell zu einer höheren Klassifizierung und größtenteils zu einer Klassifizierung bestehender Holzbauteile in C30 führen [2].

Literatur:

[1] Stefan M. Holzer: „Statische Beurteilung historischer Tragwerke: Band 2“, Ernst und Sohn Verlag, Hoboken 2015

[2] Wolfgang Rug: „Holzbau im Bestand – Historische Holztragwerke: Beispiele für substanzschonende Erhaltung“, Beuth Verlag, Berlin 2018

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