Tragwerkstypen
Vielfach ist es im Hochbau doch so: Das Tragwerk ist „nur“ die mechanische Anpassung an das Design und hat scheinbar kein Eigenleben. Das Problem eröffnet sich nur dort, wo die Naturgesetze einen Strich durch die Rechnung machen und die „Statik“ nicht mehr Nebensache ist. Würde man das Tragwerk als Hauptwerk und nicht als Beiwerk auffassen, wäre der Zugang ein grundlegend anderer. Nach Heino Engel [1] sind vier mögliche Tragmechanismen gegeben. Diese vier Typen stehen für die grundsätzlichen Möglichkeiten, mit den Kräften umzugehen.
Die erste Möglichkeit besteht in der Anpassung der Form an die Kräfte. Die geometrische Form wird so angeordnet, dass sich im Bauteil nur Zug- oder Druckkräfte ergeben. In der Form des unter Zug stehenden Seils oder des Druckbogens – und in Form der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten und komplexen Lösungen – wird diese Möglichkeit materialisiert. Man kann von „formaktiven Tragsystemen“ sprechen.
Die zweite Möglichkeit besteht in der Aufspaltung der Kräfte. Im Tragwerk wirken sowohl Druck- als auch Zugglieder. Wesentlich ist, dass diese Glieder zu unterschiedlichen Dreiecken angeordnet werden. Das spezifische und einfache Beispiel ist das Fachwerk.
Eine weitere Möglichkeit besteht in der so genannten „Einsperrung“ der Kräfte im Kontinuum. Im Kontinuum selbst ergibt sich ein komplexer Spannungszustand. Im Wesentlichen ergibt sich ein Biegemoment, welches wiederum in Druck- und Zugkräfte aufgespalten werden kann, welche im Querschnitt wirken. Das einfachste Beispiel ist der Balken, der auf zwei Auflagern liegt und beispielsweise mittig belastet wird, sodass sich ein Drehmoment ergibt. Während sich der obere Teil drückt, wird der untere Teil gezogen.
Letztlich besteht die Möglichkeit in der Zerstreuung der Kräfte durch die Flächenausdehnung und Flächenform. Durch die Krümmung des Tragwerkes wirken hauptsächlich nicht Biegemomente, sondern Druck- und Zugspannungen sowie Scherspannungen, die sich als Membranspannungen darstellen. Das einfache Beispiel ist die mehr oder weniger komplexe Schale als Gewölbe, in welcher – bestenfalls und theoretisch – nur Druckkräfte wirken, sowie durchhängende Zeltdachkonstruktionen, in welchen Zugkräfte angesetzt sind.
Leichtbau als ästhetischer und konstruktiver Minimalismus
Für Werner Sobek besteht im Studium des Leichtbaus, also in der Frage nach der leichtesten Konstruktion, die beste Schule für das Verstehen er tragenden Konstruktion, weil die Grenzen ausgelotet und erforscht werden. Man könnte vom Studium des Elementaren sprechen. Die Tragstruktur wird auf den Bedeutung tragenden „Rest“ reduziert. Darüber hinaus erkennt Sobek eine „Ästhetik des Minimalen“.
„Entwerfen als Projektion eines im Geist auf unterschiedlichste Weise geschaffenen, gesehenen Bildes, zusammengesetzt aus Bildern, Worten und Empfindungen, aus teilweise nichtverbaler, nichtvisueller oder nicht-akustischer Information, wird im Leichtbau durch Einflechten der erstrangigen Forderung nach Gewichtsminimalität um einen weiteren, physikalisch fassbaren Komplexitätsgrad gesteigert“ [2].
Die Möglichkeiten, die der Leichtbau eröffnet, sind vielfältig. Vorerst der Materialleichtbau, der darin besteht, Baustoffe in einem günstigen Verhältnis von spezifischem Gewicht zur Festigkeit zu verwenden. Im Übergang von der Ebene der Werkstoffe zu jener der Tragwerke kann von „Strukturleichtbau“ die Rede sein. Es geht dabei um die Fügung der Bauteile zur Gesamtstruktur mit dem Ziel der Gewichtsersparnis. Nach wie vor hat das Tragwerk ausschließlich die Funktion der Lastabtragung.
Das Höchstmaß an Effizienz ist im „Systemleichtbau“ erreicht. Indem das Bauteil neben der lastabtragenden Funktion auch noch eine andere Funktion erhält, etwa die Raumabschließung, die Raumstrukturierung, die Wärmedämmung oder dergleichen, wird ein Höchstmaß an Effizienz erreicht.
Bei weit gespannten Tragwerken besteht die Aufgabe des planenden Ingenieurs folglich darin, ähnlich den Vorgängen in der Natur, das Material seiner Natur nach mit höchster Effizienz auszuformen, es bis an die Grenzen zu beanspruchen und damit mit möglichst wenig Material möglichst viel Funktionalität zu erzielen. In Zeiten zunehmender Ressourcenknappheit und ökologischer Problemstellungen besteht darin vor allem auch eine Notwendigkeit.
Es gibt Tragstrukturen, die dienen, die folglich nur ein anderweitiges Gestaltungsprogramm verwirklichen, und Tragstrukturen, die gestalten, indem sie durch das Tragwerk selbst dem Bauwerk seine Erscheinung geben oder sich zumindest „konstruktiv“ gestalterisch in die Bauaufgabe eingliedern. Damit ist auch das Höchstmaß an Effizienz erreicht, weil nichts überflüssig ist, sondern jedes Bauteil sich in den Dienst der Lastabtragung stellt.
Flächentragwerke im Leichtbau
Wird das Tragwerk als Flächentragwerk ausgebildet, bei dem die Form so gewählt wird, dass das Material möglichst nur auf Druck oder Zug beansprucht wird, entstehen filigrane Strukturen des Leichtbaus. Grundsätzlich werden Tragstrukturen immer dann, wenn Biegemomente entstehen, im einfachsten Fall beim Biegebalken, dick. In Tragstrukturen, die auf Biegung beansprucht werden, wirken nämlich Druck- und Zugkräfte zugleich. Wir ein Bauteil nur auf Druck oder nur auf Zug beansprucht, kann das Material effizienter ausgenutzt werden.
Beim Druck kommt das Problem hinzu, dass auf Druck beanspruchte Bauteile ausknicken können und wiederum ein zusätzliches Sicherheitsmaß, das in Materialdicke bemerkbar wird, in Rechnung gestellt werden muss. Strukturen, die auf Druck wirken, bieten allerdings ein Potential. Pier Luigi Nervi hat im 20. Jahrhundert schlanke Tragstrukturen aus Beton entwickelt, die filigran und ästhetisch zugleich sind. Die Bauingenieure John Ochsendorf am MIT (Massachusetts Institute of Technology) und Philippe Block an der ETH Zürich arbeiten heute an modernen Druckgewölben.
Auf der anderen Seite können nur auf Zug beanspruchte Strukturen umso filigraner konzipiert werden, insbesondere dann, wenn die Vorspannung hinzu kommt. Ein allseits bekanntes Bauwerk ist das Olympiastadion München, bei dem Jörg Schlaich als Tragwerksplaner gewirkt hat. In Tragstrukturen, die flächlig nur auf Zug beansprucht werden, wirken Membranspannungen: „Das Tragverhalten von Membranen ist auf die Ableitung von Zugkräften beschränkt. Die angreifenden äußeren Lasten müssen über Normalspannungen in der Membranfläche abgeleitet werden. Dies kann nur über Krümmungsänderungen in der Membranfläche erreicht werden, sodass sich jeweils ein Gleichgewichtszustand einstellt“ [3].
Zugkräfte infolge senkrecht zur Membrane angreifender äußerer Lasten können vereinfacht über die Kesselformel ermittelt werden. Membrantragwerke tragen also über ihre gekrümmte Oberfläche. Je stärker die Krümmung, desto geringer die Membrankräfte und dementsprechend günstiger ist das Tragverhalten und die daraus resultierenden Rand- oder Auflagerlasten [3]. Die Membranspannung wirkt konstant über die Querschnittsdicke, weshalb der Querschnitt optimal ausgenutzt wird. Es treten nur Normal- und Scherspannungen auf.
Im Rahmen der Membrantheorie wird die Verformung allerdings vereinfachend vernachlässigt. Wenn die theoretischen Bedingungen an den Membranspannungszustand nicht mehr erfüllt sind und die Verformungen nicht zu vernachlässigen sind, gilt nicht mehr die Membrantheorie, sondern die Biegetheorie.
Die Theorie zum Leichtbau klingt scheinbar leicht, die Praxis ist allerdings um einiges komplexer. Abgesehen von der Komplexität der Berechnungen kommt auch noch die Komplexität der Bauausführung hinzu. Leichtbau ist folglich methodisch nicht einfach, sondern schwer. Weil die Grenzen ausgelotet werden. „Das Leichte ist schwer, weil der Leichtbau Grenzen auslotet, die theoretischen der Statik und Dynamik, die technologischen mit hoch leistungsfähigen Werkstoffen und die fertigungstechnischen mit komplizierten dreidimensionalen Strukturen“ so Jörg Schlaich [3].
Literatur:
[1] Heino Engel: „Tragsysteme / Structure Systems“, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2006
[1] Werner Sobek: „Entwerfen im Leichtbau“, Themenheft Forschung, Stuttgart 2007
[3] Ulrike Kuhlmann (Hrsgb.): „Stahlbau-Kalender 2015 – Eurocode 3 Grundnorm, Leichtbau“, Ernst & Sohn Verlag, Berlin 2015