Heimat ist heute ein zunehmend schwieriger Begriff. In einer vernetzten und schnelllebigen Welt ist das Beständige die Seltenheit und die Veränderung die Konstante. Das grenzenlose Mobilsein macht neue Formen des Ankommens notwendig, die zeitlich begrenzt sind.
Gehobene Hotels oder Restaurants bieten – überall auf der Welt – einen bestimmten Stil und damit ein Ankommen und eine kommerzielle „Heimat“. Die Grand Hotels in den Alpen versprachen zu Beginn des Fremdenverkehrs ebenso den Komfort und die Ästhetik, die das Bürgertum aus der Stadt kannten, auch in alpinen Umgebungen, die extremen natürlichen Umgebungen ausgesetzt waren. Gewissermaßen eine fragwürdige Anmaßung und unermessliche Mühen, um Straßen und Infrastruktur in Stein zu hauen. Diese „Zufluchtsorte“ in extremer Exposition sprechen und versprechen eine universelle Sprache. Das gilt – im Negativen – allerdings auch für McDonalds.
Nach Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer besteht die Rolle des Bauens beziehungsweise der Architektur in einer faktisch spekulativen Wirtschaftsordnung – zusätzlich zum Bereitstellen der Infrastruktur – im „Erschließen, Bündeln und Lenken von Kapitalströmen“ auf einen spezifischen Ort hin [1]. Damit hängt der Umstand zusammen, dass Kapital eine symbolische Bedeutung hat, aber auch verlangt.
Das Gebaute bindet neue räumliche Erschließungen bestenfalls in die „weltumspannenden Bahnen konzessionierter kommerzieller Strukturen“ und „mobilisierter globaler Kundenstöcke“ ein. Erst dort, wo diese Eingliederung und Erschließung glaubhaft gelingt, wächst das Vertrauen in den Standort. Abseits vom Kommerziellen ist das Wert des Vertrauten. Ein Wert, den das Konzept „Heimat“ seit jeher bietet.
Ästhetik, Negroni und Zugehörigkeit
Vom Kommerziellen und Materiellen zum Immateriellen und zu dem, was abseits des materiell Greifbaren eine geistige Ebene erfassbar macht. Ästhetik ist nicht „nur“ der äußere Schein, sondern drückt – bestenfalls – einen inneren Anspruch und ein Wesen aus. Eine nachvollziehbare Ästhetik – nichtdeutsch: ein „Corporate Design“ – steht für einen „Code“ respektive einen Wertekodex, schafft Vertrauen, Zugehörigkeit und ruft die Erfahrung ab.
Ob in Kairo, New York, Tokyo oder Berlin, ob am Berg, in der Stadt, im Industriegebiet oder in der Wüste: Der „perfekte“ Negroni, perfekt serviert, inszeniert und zelebriert in der „perfekten“ Umgebung hebt die Zeit auf, lässt die globale Heimatlosigkeit vergessend machen und fokussiert die Zeit auf diesen einen Moment. Diese eine, gut sortierte Bar, bei der der Eintritt dem Einsprung in einen elitären Club gleicht. Und ein Moment, der materiell gar nicht erfassbar ist.
Die Umgebung ist in diesem Sinne „perfekt“, weil nichts zufällig, sondern alles bedacht ist, weil alles aus einer geistigen Tiefe heraus kreiert wurde, weil die Inneneinrichtung ebenso wie der Geruch in der Luft, die Oberflächen, die Lichtverhältnisse und die Musik im Hintergrund von einem höheren Bewusstsein zeugen, wie auch der „Barkeeper“, der mit Ehre, Würde und Tiefe den flüchtigen Momenten ein höheres Sein und Halt gibt.
Die Musik kommt natürlich vom Piano, vorzugsweise Chopin, und nicht vom letztklassigen Provinz-„Deejay“, der den Mainstream-„Bobo“ mit überteuerten „Second hand“-Klamotten spielt.
Darüber hinaus schafft dieser Moment Zugehörigkeit, scheint doch jeder, der diesen Moment zu genießen weiß, die gleiche universelle Sprache zu sprechen, sich den gleichen oder zumindest ähnlichen Werten zugehörig zu fühlen und von einer Welt zu träumen, die nicht die materielle ist.
Ein unausgesprochener „Club“ der Gleichgesinnten. Dort treffen sich „Gleiche“. Mit einer ähnlichen Haltung und einer ähnlichen Gesinnung, die – im Sinne des aristokratischen Kontextes, für den dieser eine Negroni steht – eine ritterliche Gesinnung ist und die einen Ehrbegriff verlangt. Moderne Gesellschaften sprechen von „Berufsethik“. Nur: Es ist kein Beruf.
Aus diesem aristokratischen Konsens heraus, der sich nicht auf soziale Abstammung bezieht, sondern auf Bewusstsein, zählt der Handschlag mehr als sonst, das Wort ist wahr und echt und die Verbundenheit nicht geheuchelt. Man könnte von einer „Brüderlichkeit“ sprechen, ohne dabei die Frauenwelt auszuschließen. Ganz im Gegenteil: Die Frauenwelt ist das wichtigste, sie ist der Antrieb. Freilich ist das alles „antiquiert“ – und gut so.
Es geht um etwas anderes als um Oberfläche und Kitsch. Es geht um Stil und Anspruch, um Zeitlosigkeit und Klassik, die sich uns in den bestimmten Momenten erschließen. Der Negroni eröffnet dann mit seinem bitter-süßlichen Geschmack nicht nur einen aristokratischen Anspruch, der heute wie gesagt nicht durch Erbe, sondern durch individuelles Streben erreicht wird, sondern einen süßen Traum vom Süden und von fernen Stränden, an denen das Leben leicht und süß ist.
In solchen Atmosphären entstehen Geschichte und Geschichte, ganze Welten und Weltanschauungen.
Bis denn der süße Traum ausgeträumt ist und es wieder hinaus in die Kälte, in die Haltlosigkeit und in die wilde Natur geht. Vorerst.
Das sind die Welten, die wir – wenn wir bauen, denken, gestalten, planen, materialisieren und konstruieren – verwirklicht sehen wollen. Immer und immer wieder. Wir wollen kein sterilen, „modernen“ Müllhalden, sondern Räume, die unser Wesen erheben und uns in der Zeit aufheben.
Weil wir an räumliche Welten anknüpfen, die manchmal nicht von dieser Welt sind, die in diesem Sinne ewig sind und vor allem keine Frage für launige und oberflächliche Moden und die wir – in der Plattenbausiedlung – nicht einmal mehr angedacht vorfinden, weil ohnehin alles nur noch banal und „nützlich“ und vergänglich ist.
Literatur:
[1] „Das Geschäft mit de[1] Österreichische Gesellschaft für Architektur: „UmBau 28: Das Geschäft mit der Stadt. Zum Verhältnis von Ökonomie, Architektur und Stadtplanung“, Birkhäuser Verlag, Basel 2015
[2] Günter Erbe: „Der moderne Dandy“, Böhlau Verlag, Köln 2013
[3] Hardy Amies: „Anzug und Gentleman“, Lit Verlag, Münster 1997