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Forensic Engineering: Sachverständig im Bauwesen und vor Gericht

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Viel Kapital, viel Risiko, ein straffes Zeitprogramm, viele Beteiligte, viel Fehlerpotential, hohe Spannung, vertragliche Verbindlichkeiten, viel Potential für Unvorhergesehenes, natürliche Gegebenheiten wie der Baugrund, unzählige Normen, komplizierte und anspruchsvolle Anforderungen, Mehrkosten und jedes Mal eine Einzelanfertigung: Bauen birgt ein enormes Konfliktpotential, das alle Seiten arg beansprucht. Bis hin zu Mediation und Gerichtsverhandlungen, die zwar häufig niemandem etwas bringen, aber in extremis in Anspruch genommen werden, um die eigenen Rechte zu wahren.

Neben einer hohen Affinität zur juristischen Welt ist im Sinne eines unabhängigen Sachverständigenwesens die staatsbürgerliche Verantwortlichkeit bedeutend, die sich dem Dienst an der Wahrheitsfindung und an der öffentlichen Sache verschreibt. Ein funktionierender Rechtsstaat ist und bleibt die Grundlage, damit sich in einem Gemeinwesen Innovationen vollziehen können.

Der Glaube an die Res Pubblica als Staatsform sowie an den Rechtsstaat machen eine unabhängige Judikative als rechtssprechende Gewalt erforderlich. Darin nehmen neben Gerichten und Rechtsanwälten vor allem auch Sachverständige eine wesentliche Rolle ein, um im Sinne der Rechtsprechung ihr detailliertes Fachwissen der Wahrheitsfindung zur Verfügung zu stellen. Diese Expertise können weder Gerichte noch Rechtsanwälte alleine erarbeiten. Es geht im Sachverständigenwesen neben der Wahrheitsfindung um die Wahrung der individuellen Rechte und der Unschuldsvermutung. Verantwortungen sind meistens nicht auf einen Urheber zurück zu führen, sondern auf eine Kette von Konsequenzen, die aufzuarbeiten sind.

Abgesehen von der rechtlichen Unbescholtenheit ist im Sinne des Sachverständigenwesens ein detailliertes Fachwissen als Bauingenieur oder Architekt unerlässlich. Komplexe Sachverhalte zu überblicken bedingt nämlich eine überdurchschnittliche Expertise, die nicht nur den Stand der Technik, sondern auch den Stand der Wissenschaft und die neuesten Entwicklungen im Bauwesen erfasst und sich entsprechend laufend weiterbildet, nicht nur praktisch, sondern vor allem auch theoretisch.

Unabhängig vom erworbenen Wissen geht es allerdings um eine spezifische fachliche Neugier, die den Dingen auf den Grund gehen will. An diesem Ansatz und an diesem Anspruch werden qualitative Unterschiede bemerkbar.

Es geht um fachliche Expertise sowie um die Fähigkeit zur Dialektik. Dialektik ist die Fähigkeit der Gesprächsführung, nicht nur der kommunikativen, sondern der philosophischen. Die tiefer reichende Reflexionsfähigkeit und das Denken über Systeme hinweg ist für eine komplexe Wahrheitsfindung nämlich wesentlich.

Das Wirken als Gerichtssachverständiger macht es im Sinne der kommunikativen Dialektik erforderlich, komplizierte und komplexe Sachverhalte einfach, auch außerhalb des eigenen Fachgebietes, verständlich zu machen. Dazu sind kommunikative Fähigkeiten sowie die Kenntnis wesentlicher Prinzipien des Verhandlungs- und Konfliktmanagements unerlässlich.

Die Frage nach dem Motiv ist in jedem Verhandlungsmanagent zentral. Heute sind Konflikte, die in letzter Kobsequenz auch vor Gericht landen, unter anderem auch eine mediale Angelegenheit, die die Kommunikation mit der Öffentlichkeit im Sinne der Litigation-PR erforderlich machen. Nicht nur vor Gericht, auch im Sinne der Kommunikation zwischen den Parteien ist dabei eine seriöse technische Aufarbeitung, Dokumentation und Bewertung erfolgsentscheidend. Auch gegenüber Medien, die nur allzu gern oberflächliche Vorverurteilungen treffen. Seriöse Gutachten liefern argumentative Überlegenheit.

Dialektik ist neben der kommunikativen Schlagseite eine philosophische Methode, die sich in Hinterfragung („richtig“ geglaubter) Positionen und in der Synthese dieser Positionen zu einer integralen Wahrheit versteht. Man mag an Ferdinand von Schirachs Novelle mit dem alten Anwalt denken, der in seinen jungen Jahren im Sinne einer rechtsstaatlichen Unschuldigkeitsannahme die RAF verteidigte und dessen Erfolgsgeheimnis darin bestand, sich immer unabhängig und eigenständig eine Meinung zu bilden, auch gegen den Mainstream und gegen die Machtsysteme, dabei gedanklich dort anzusetzen, wo andere mangels kreativer Fertigkeit nicht hinzu gelangen vermochten.

Natürlich ist der Ingenieur definitionsgemäß im Sinne von Ingenium an der sinnreichen Erfindung interessiert, jedoch verlangt die staatsbürgerliche Verantwortlichkeit vor allem auch den Dienst gegenüber der Gesellschaft, um das eigene Fachwissen in die Untersuchung von Materialien, Produkten und Strukturen in Bezug auf Versagens- und Schadensfälle zu stellen, die der Gesellschaft einen Nutzen bringt und dem Einzelnen, der im Kreuzfeuer der Kritik steht, zu seinem Recht zu verhelfen.

Im Englischen ist mit dem Begriff des „Forensic Engineering“ die Einordnung als wesentlicher Bereich des Ingenieurwesens deutlicher als im Deutschen. Letztlich besteht in dieser Integration als Forensic Engineering auch ein Teil des Ganzen: Im Projektmanagement, in der Planung, in der Bauausführung und Bauleitung, im Claim Management und zuletzt auch im Gerichtssachverständigenwesen, um den Bauabblauf ganzheitlich von Anfang bis Ende zu erfassen.

Das Wissen über die „richtige“ Ausführung bedingt die Erforschung der Mängel und Fehler einer mangelhaften Ausführung sowie die nachhaltige Behebung systematischer Mängel. Der Weg ist folglich ein ingenieursmäßig inverser, besteht letztlich aber in der progressiven Entwicklung fehlerfreier Systeme nach dem Prinzip Try – Fail – Repeat.

Während die Planung immer dem Grundsatz unterstellt ist, Personen- und Sachschäden zu verhindern, geht es im Sinne des „Forensic Engineering“ um die Erforschung der Ursachen, die zu Personen- und Sachschäden geführt haben und folglich um einen Progress im Normenwesen sowie auf Seiten des Stands der Technik und der Wissenschaft sowie der Planung, um nämlich derartige Konfliktsituationen aktiv vorausblickend zu verhindern.

Wie es sich für eine Wissenschaft gehört, geht es um die „Vergleichbarkeit“ von Ergebnissen, um die Herstellung der Relation zwischen Ursache und Wirkung und um die Falsifizierbarkeit von Theorien (gemäß der Erfahrungswissenschaft bei Karl Popper) im Sinne der Festigung von Theorien mit möglichst geringer Widersprüchlichkeit und Angreifbarkeit, was die intensive Ursachenerforschung, aber auch eine offene Herangehensweisen notwendig macht.

Gerade im Bauwesen und bei Immobilien sind Mängel folgenschwer und teuer, sodass Bausachverständige den mutmaßlich Geschädigten zum Recht verhelfen müssen, ob dem Bauherr, dem Ausführenden, dem Planer oder dem Käufer.

In der italienischen Judikative kommt der Amtssachverständige (ASV) bzw. Consulente Tecnico d’Ufficio (CTU) im Zivilrecht vor, während der Gutachter bzw. Perito im Strafrecht Wiedergabe findet. Für beide Figuren sind an den Landesgerichten entsprechende Berufsverzeichnisse angeordnet. Für Südtirol am Landesgericht Bozen.

Neben Amtssachverständigen oder Gutachtern, die vor Gericht vereidigt werden, existiert der Parteisachverständige (PSV) bzw. Consulente tecnico di parte (CTP), welcher ein Feriberufler ist, der grundsätzlich der streitenden Partei zur Seite gestellt werden kann. Das Verhältnis Richter zu ASV entspricht dem Verhältnis Anwalt zu PSV. Der Parteisachverständige wahrt die Intetessen einer Streitpartei, verpflichtet sich aber immer der Berufsethik und -ehre, die nur im rationalen Dienst an der Ursachenerforschung bestehen kann.

Oftmals gilt es aber, Blickwinkel zu ändern und zu schärfen, Schwerpunkte neu zu setzen, auf verborgene Ungereimtheiten hinzuweisen, Verantwortlichkeiten auszuarbeiten und Konsenslösungen anzuzielen. Das Verhandlungsgeschick zahlt sich aus. Aber auch der interdisziplinäre Ansatz, der kreative Gedanke und der Rückgriff auf die Welt außerhalb der Fachwelt.

Vielfach beginnt das proaktive Vorgehen aber bereits viel früher. In der Angebotsphase, in der Planung, im Claim Management, in der Bauausführung, in der Bauüberwachung, in der Bauabnahme, in der Beurteilung von Beeinträchtigungen und Mängeln. Dann klappt es im Falle eines Streitverfahrens besser, die Vorbereitung auf den Ernstfall ist gegeben, die Lösung von Mängeln einfacher, eine Mediation denkbar und ein Streitfall vor Gericht eher selten.

Literatur:

[1] Katharina Müller und Rainer Stempkowski: „Handbuch Claim-Management“, Linde Verlag, Wien 2015

[2] Axel Wirth, Cornelius Pfisterer: „Privates Baurecht praxisnah“, Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2011

[3] Karl-Heinz Keldungs, Joachim Ganschow, Norbert Arbeiter: „Leitfaden für Bausachverständige: Rechtsgrundlagen – Gutachten – Haftung“, Springer, Wiesbaden 2018

14 Antworten zu „Forensic Engineering: Sachverständig im Bauwesen und vor Gericht”.

  1. Avatar von 360 Grad Bauingenieurwesen – Demanega

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  3. Avatar von BIM in Architektur, Bauwesen und Tragwerksplanung – Demanega

    […] Mehrkosten und Mehrzeiten werden immer weniger hingenommen und haben immer öfters auch gerichtliche Nachspiele. Folglich besteht auch die Notwendigkeit aufseiten der Planer und Ausführenden, […]

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  4. Avatar von Mediale Krisen und Konflikte: Trotzdem zum Projekterfolg – Demanega

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    […] vonnöten machen, etwa Kinderwohl oder Umweltschutz oder aber Einschränkungen zugunsten jener Verwaltungsaufwände, die das Ganze am Laufen […]

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  8. Avatar von Führen in der Krise – Wenn es hart auf hart kommt – Demanega

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