Die Untertunnelung der Dolomiten im Bereich Sella-Massiv ist seit Jahrzehnten ein – utopisches – Thema. Konkret geht es um mehrere Tunnel, die die Dolomiten-Pässe Sella, Pordoi, Campolongo und Gröden verbinden sollen. Die Distanzen zwischen Gröden, Gadertal, Buchenstein und Fassa sollen dadurch drastisch verkürzt werden. Der Kostenfaktor beträgt 400 Millionen Euro.
Grundsätzlich sind Tunnel-Lösungen mit hohen Investitionskosten, langen Bauzeiten, hydrogeologischen Risiken verbunden. Die Gegenargumente, die unter konventionellen Umständen kaum eine derartige Investition legitimieren würden, sollen – wenn es nach der Region Veneto geht – durch den Finanzschub, den der „EU-Recovery-Fonds“ verspricht, aus der Welt geschaffen werden.
Der so genannte „Wiederaufbaufonds“ der Europäischen Union sieht die Unterstützung nachhaltiger Reformen und Investitionen mit Blick auf erneuerbare Energieformen vor.
Eine Tunnellösung, die darauf hinaus läuft, neue Straßen für den motorisierten Individualverkehr zu schaffen, lässt sich in Anbetracht der gängigen Konventionen zur nachhaltigen Mobilität nur schwer als „nachhaltige“ Investition rechtfertigen. Nur zwei Argumente sprechen für die so genannte „Nachhaltigkeit“: Erstens, unnötigen Umwegverkehr vermeiden und die Destinationen direkter anbinden. Zweitens, in den Wintermonaten eine sichere Mobilität garantieren und weite Umwege vermeiden.
An eine Verkehrsvermeidung glauben die Projektinitiatoren allerdings eher selbst nicht. Das Projekt Sella-Tunnel wird mit den Olympischen Winterspielen 2026 in Verbindung gebracht und soll nicht Verkehr vermeiden, sondern enorme Verkehrsflüsse in den Dolomiten erst möglich machen.
Alle Verkehrsprojekte belegen aus verkehrswissenschaftlicher Sicht eine garantierte Zunahme des Verkehrsaufkommens durch schnellere und direktere Verkehrsverbindungen. Zwar wird der Verkehr vielleicht umgelenkt und kanalisiert; flüssigere Verkehrsverbindungen, die Zeit sparen und die Entfernungen reduzieren, bedingen allerdings immer ein garantiert höheres Gesamtverkehrsaufkommen. Derartige Eingriffe in das Verkehrssystem bedeuten weitreichende sozioökonomische, ökologische, touristische und auch kulturelle Konsequenzen.
Selbst wenn der Verkehr folglich im Tunnel abgewickelt wird, betreffen die Emissionen aus Feinstaub, Verbrennung und Reifenabrieb die gesamte Umgebung und das Ökosystem. Inwiefern die UNESCO bei einem derartigen Eingriff kommentarlos zusieht und ob nicht längerfristig die negativen Konsequenzen dominieren, darf offen in Frage gestellt werden. Insgesamt ist mit weitreichenden Protesten der Umweltverbände und der medialen Öffentlichkeit zu rechnen, die dem „nachhaltigen“ Standort Südtirol eher schaden als nutzen. Der Verkehr in die Dolomitentäler wird zwar beschleunigt, gleichzeitig allerdings auch der Verkehr aus den Dolomitentälern, was insgesamt eine Stärkung des Massentourismus statt des Qualitätstourismus bedingt.
Der Recovery-Fonds bietet Möglichkeiten zu einer nachhaltigen Transformation. In Zeiten, wie diesen, sind nachhaltige Lösungen wie Seilbahnprojekte, öffentlicher Verkehr sowie autonomes Fahren und Elektromobilität, Wasserstoff-Mobilität, die Erzeugung und effiziente Nutzung von erneuerbarer Energie aus Photovoltaik – in welcher Form auch immer – anzudenken, die dem Standort Südtirol längerfristig zur „grünen“ Region im Herzen der Alpen verhelfen. Neue Straßenbauprojekte sind unzeitgemäß, widersprechen jedem Trend und wirken sich – aufgrund der gegebenen gesellschaftlichen und medialen Rahmenbedingungen – kontraproduktiv aus.
Die 400 Millionen aus dem Fonds könnten (abseits neuer Straßenbau-Tunnel zur Maximierung des Verkehrs) in weichenstellende und innovative Projekte fließen – wenn denn das Bewusstsein für eine Verkehrs- und Energiewende abseits der Worte vorhanden wäre.
Grundsätzlich stellt sich bei derartigen Projekten immer die Frage, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Bei einem Tunnelkettenprojekt, das 2021 geplant und bereits 2022 initiiert werden soll, ist nicht davon auszugehen, dass die längerfristigen Konsequenzen erfasst sind. Es läuft wohl einmal mehr darauf hinaus, zuerst zu bauen und dann zu denken. Mit dem Hintergedanken, 2026 den Massenverkehr abzuwickeln.
Im Gegensatz zur Sella-Tunnel-Kette garantiert die Riggertalschleife nachhaltige Lösungen für den Standort Südtirol: Die Riggertalschleife und die Chancen
Weiteres zum Thema:
Trends und Perspektiven einer grünen Mobilität
Wie smarte Mobilität und autonomes Fahren unsere Städte verändern werden
Straßenplanung und Umweltschutz
Stichworte: Verkehrsplanung in Südtirol, innovative Verkehrsplanung, Integrale Mobilität, Mobilitätskonzepte, Verkehrsgutachten