Die Kontrolle über die materielle und nicht-materielle Infrastruktur bedeutet in jedem Fall eine politische Machtposition. Ganz trivial ausgedrückt sichert sich der Staat über die Infrastruktur die latente Macht im Staatsgebiet. Daran ändert das vermeintliche „Europa ohne Grenzen“ wenig, das der kritischen Prüfung im Ernstfall nicht standhält, sondern einzig und allein der Erleichterung des eigenen Gewissens dient.
Letzten Endes ist die staatliche Souveränität ungebrochen. Der Ernstfall schafft die Wirklichkeit. Und im Ernstfall werden Staatsgrenzen spürbar und unüberwindbar. Entweder über Härte und Abschottung. Oder über politischen, diplomatischen, ökonomischen Einfluss.
Das Konzept der strukturellen Macht ist in diesem Zusammenhang essentiell. Macht kann einerseits direkt oder diffus und andererseits zwischen Akteuren oder über soziale Zusammenhänge wirken[i]. Die Zwangsmacht wirkt direkt zwischen Akteuren. Die institutionelle Macht wird hingegen diffus zwischen Akteuren, etwa zwischen einer Verwaltung und den Bürgern ausgeübt. Die strukturelle Macht wirkt direkt über soziale Zusammenhänge. Wenn einem Individuum – aus bestimmten Gründen – keine Bank ein Geld leiht, dann wirkt die strukturelle Macht. Letztlich kann Macht diffus über soziale Zusammenhänge wirken und zwar als produktive Macht. Diese bezieht sich etwa auf die Informationsebene und in der Folge auf die öffentlich-mediale Darstellung, die den eigenen Status wesentlich beeinflusst.
Infrastruktur kann natürliche alle Machtebenen erfassen, wirkt aber in unserer modernen Ordnung vorwiegend strukturell. Im militärischen Ernstfall wirkt sie als Zwangsmacht. Die strukturelle Macht ist eine faktische Gegebenheit. Dadurch, dass Infrastrukturen materielle Gegebenheiten sind, die greifbar und konkret sind, müssen diese auch nicht im Abstrakten definiert werden. Jede Ordnung, die nicht auf dem materiellen Status Quo gründet, ist demgegenüber im Nachteil und müsste sich erst in der Praxis bewähren.
Die „normative Kraft des Faktischen“ ist ein „realpolitischer“ Faktor. Diese normative Kraft besteht darin, dass das Gegebene keiner Begründung benötige, während jede Änderung erst gerechtfertigt werden müsse. Die normative Kraft des Faktischen mag zwar im Realpolitischen wirken, ist aber etwas anderes als das Recht.
Hans Kelsen flankiert diese Haltung durch den Rechtspositivismus. „Den Geltungsgrund in Gott, in der Natur oder sonst in metaphysischen Gefilden zu suchen, verbietet sich für den Rechtspositivisten Kelsen. Ausgeschlossen ist aber auch der Rückgriff auf soziale Phänomene, etwa im Sinne einer normativen Kraft des Faktischen. Sein und Sollen sind, dem Denken des Neukantianismus gemäß, streng voneinander geschieden. Das Sollen lässt sich nicht aus dem Sein ableiten, das Sein nicht aus dem Sollen. Rechtsnormen können nur aus Rechtsnormen begründet werden, nicht aber aus Realien“[ii].
„Den Ausweg aus dem Dilemma findet Kelsen in einer fiktiven Grundnorm, die er dem geltenden Recht unterlegt (…) Die Verweisung auf einen fiktiven Normursprung schneidet das weitere Fragen ab. Sie gibt dem Juristen rechtstheoretische Resistenz gegen intellektuelle Neugier. Die Grundnorm hält gnädig den Vorhang geschlossen, hinter dem, wie der Normativist argwöhnt, das Gorgonenhaupt der Macht lauert“[iii].
Die normative Kraft des Faktischen ist immer eine machtpolitische Kategorie. Wer den Status Quo als gegeben annimmt, handelt immer willkürlich und meistens zum eigenen Vorteil. Carl Schmitt begründet das Recht durch die Landnahme. Der Zugang ist zumindest realistischer, wenngleich härter und primitiver. Die Geschichte hat nun einmal die Eigenschaft recht „primitiv“ zu sein.
Infrastrukturen sind in der Folge Macht und begründen Macht. Sie sind ein hartes Gesetz, das kaum wegdiskutiert werden kann, wenngleich dies ständig versucht wird.
Die Infrastruktur eröffnet diverse Machtebenen: „Infrastrukturen verleihen Macht: Die Eigentümer der Wasserversorgung sind zentrale Akteure; wer am Wasserhahn sitzt, kann seine Nachbarn austrocknen. Infrastrukturen zwingen zur Aushandlung von Machtverhältnissen, etwa im Zusammenspiel von Planungsbehörden, Versorgungsunternehmen und Politik. Infrastrukturen visibilisieren Machtansprüche – prächtige Brunnenanlagen verbildlichen seit der Antike das Selbstverständnis von Stadt- und Landesherren (…) Infrastrukturen speichern Macht, wen sie Dominanzverhältnisse über Revolutionen, Systemtransformation und Entkolonisierung hinweg stabilisieren. Infrastrukturen legitimieren Macht, wenn infrastrukturelle Leistungen die raison d’être des Wohlfahrtsstaates kondensieren. Infrastrukturen kaschieren Machtansprüche, wenn mit ihnen begründete tatsächliche oder vermeintliche „Sachzwänge“ an die Stelle politischer Kontroversen treten“[iv].
Und weiter: „Infrastrukturen haben die Eigenschaft, Machtausübung zu speichern: In Infrastrukturen materialisierte Machtausübung verfügt über eine Fernwirkung. Diese hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Die zeitliche Fernwirkung (Speicherung) zeigt sich darin, dass Infrastrukturen häufig eine große Trägheit besitzen, das heißt, ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad nur unter Aufbringung erheblicher Kosten verlassen werden kann (…) Die Machtspeicherung darf daher nicht auf Pfadabhängigkeit reduziert werden. Unter dem Aspekt der modalen Macht muss auch das Gegenteil von „Abhängigkeit“ diskutiert werden, nämlich eine andauernde Ermöglichungs-(anstelle einer Verhinderungs-)Wirkung (…) Fernwirkungen von Macht erzeugen Infrastrukturen aber auch in räumlicher Hinsicht – dies bezeichnen wir als Zirkulation von Macht. Wir gehen davon aus, dass die Zirkulation von Macht wesentlich durch materielle Beschaffenheit der Infrastrukturen als räumlich manifestierte Netze gelenkt wird (…) Die Besonderheit des Infrastrukturnetzes liegt darin, dass jeder Punkt auf seinen Maschen zugleich ein lokaler und ein überlokaler Ort ist“.
Anders ausgedrückt: Grenzen kann man „wegdiskutieren“, aber nicht wegmaterialisieren. Sie bestehen. Und begründen sich aus dieser materiellen Wirklichkeit heraus. Wer an diesem Umstand etwas ändern will, rennt gegen Mauern an. Einfacher ist so zu tun, als gäbe es diese Mauern nicht.
Literatur:
[i] Andrej Pustovitovskij: „Strukturelle Kraft in Internationalen Beziehungen“, Springer-Verlag, Bonn 2015
[ii] Josef Isensee: „Das Volk als Grund der Verfassung: Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt“, Verlag fürr Sozialwissenschaften, Frankfurt 1995
[iii] Josef Isensee: „Das Volk als Grund der Verfassung: Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt“, Verlag fürr Sozialwissenschaften, Frankfurt 1995
[iv] J. Engels, Gerrit Jasper Schenk: „Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen Überlegungen zu einem Forschungsfeld“, De Gruyter Oldenbourg, München 2014