Bauingenieurwesen und Ästhetik

Im herkömmlichen und konventionellen Verständnis hat Ästhetik im Bauingenieurwesen eine eher untergeordnete Rolle. Ästhetik würde man vorrangig mit der Kunst und in der Folge mit der Baukunst, der Architektur, verbinden. Tatsächlich hat das Bauingenieurwesen in vielen Fällen auch nicht sehr viel mit Kunst zu tun, sondern begrenzt sich vielfach darauf, architektonische Entwürfe technisch realisierbar zu machen.

Dass es grundsätzlich auch anders geht, beweisen herausragende Bauingenieure, die das Tragwerk nicht als Beiwerk, sondern als essentielle Erscheinung des Bauwerks erachten. Das Tragwerk ist folglich nicht nur das Tragende, das durch die „schöne Fassade“ verdeckt wird, sondern das Gestaltende. In einer Tragwerksplanung, die gestalterische Ziele verfolgt, liegt auch mein persönliches Interesse und mein Zugang zur Disziplin.

Brücken sind eigentlich funktionelle Bauwerke. Sinn und Zweck ist es, ein Hindernis zu überwinden und damit Verkehrswege zu schaffen. Durch ihre exponierte Lage geben Brücken einer Landschaft aber auch ein spezifisches Gesicht. Dass Brücken folglich immer auch ästhetischen Kriterien zu genügen haben, haben fast alle großen Bauingenieure als Zweck ihrer Planungen begriffen. Aus diesem einen Grund sind ihre Brückenbauwerke auch bis in die heutige Zeit erhalten geblieben.

Der Schweizer Bauingenieur Robert Mailart (1872 – 1940), der als Pionier im Stahlbetonbau gilt, hat durch die detaillierte Erforschung der Kräfteverhältnisse im Stahlbeton, durch die stringente Berechnung sowie durch die Liebe zum konstruktiven Detail, möglichst effiziente Bauwerke geschaffen, die darüber hinaus auch noch allen ästhetischen Ansprüchen nach Eleganz entsprechen. In der Person Maillarts treffen sich höchste Bauingenieurkunst sowie Bewusstsein für Ästhetik.

Die Salginatobelbrücke bei Schiers im Kanton Graubünden, die einem Dreigelenk-Bogen entspricht und das herausragendste Bauwerk Maillarts ist, wurde 1930 fertiggestellt, entspricht bis heute hin allen gestalterischen Anforderungen nach Übersichtlichkeit, Nachvollziehbarkeit des Kräfteverlaufes, Ästhetik und Eleganz und ist – durch den klassischen Charakter – zeitlos.

Ästhetik nimmt im Bauingenieurwesen eigentlich keine Nebenrolle ein, sondern ist vielfach die Bedingung, dass Bauwerke entstehen, die allen Anforderungen entsprechen und darüber hinaus auch noch zeitlos und schön sind. Indem es dem planenden Bauingenieur darum geht, einen mehr oder weniger „perfekten“ Entwurf zu erarbeiten und folglich entsprechend viel Zeit und Hingabe in das Bauwerk zu stecken, entsteht Herausragendes und Schönes.

Weiterführende Literatur: Robert Maillart – Betonvirtuose

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