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Turnvereine in Tirol: Wehrhaft, freiheitlich und deutschbewusst

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Die Turnvereine trugen nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung bei, sondern waren eine wesentliche Stütze der Tiroler Grenzkämpfe 1859 und 1866. Ohne die Turner wären die freiwilligen Feuerwehren in Tirol undenkbar gewesen. Dass das Turnerwesen heute in Tirol wenig verbreitet ist, hat ideologische Gründe.

Am 13. November 1810 gründete Friedrich Ludwig Jahn mit elf Gleichgesinnten in der Hasenheide bei Berlin den geheimen „Deutschen Bund“. Ziel der konspirativen Vereinigung war die Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Herrschaft und die politische Einigung der zersplitterten deutschen Staaten.

Nur wenige Monate später, 1811, eröffnete Jahn in der Hasenheide, inzwischen ein öffentlicher Park in Berlin, den ersten öffentlichen Turnplatz. Für ihn war Turnen nicht bloß Körperübung, sondern ein Mittel zur Erziehung wehrhafter, disziplinierter und gemeinschaftlich gesinnter Männer.

Jahn versuchte, den preußischen Königshof vom Aufstand gegen Napoleon zu überzeugen. Mit den Gründern des Freikorps Lützow stand er bereits vor der Gründung in Kontakt. Mit Beginn der Befreiungskriege 1813 schloss sich Jahn dem Lützowschen Freikorps an, in dem viele Turner dienten.

Nach Napoleons Niederlage und der Neuordnung Europas im Sinne der politischen Restauration ab 1815 geriet Jahn wegen seiner kompromisslosen nationalen Positionen und seiner Ablehnung der restaurativen Politik der Fürsten ins Visier der preußischen Behörden. 1819 wurde er verhaftet und für mehrere Jahre aus Berlin verbannt.

Es war das freiheitliche Bürgertum, das im Gegensatz zu den Konservativen nicht blindlings dem Staat vertraute, sondern eigene Strukturen schaffte: Schüler- und Studentenverbindungen, Alpenvereine, – und Turnvereine. Weder im Vormärz, also in der Zeit vor 1848, noch in der Zeit nach 1849, als in Österreich ein neoabsolutistisches Zeitalter ansetzte, war es ohne Weiteres möglich, Vereine mit einer freiheitlichen Ausrichtung zu gründen. Bespitzelung, Verfolgung und behördliche Auflösung waren die Folge. Andererseits: Der Staat konnte den Dammbruch immer weniger verhindern. Österreich geriet in innen- und außenpolitische Krisen und war spätestens seit der militärischen Niederlage 1859 zu einem allgemeinen Umdenken gezwungen.

Die Turnvereine verbreiteten sich ab 1844 von Wien nach Tirol und waren – in der Tradition des Turnvaters Jahn – Ausdrucksformen nationalen Bewusstseins, körperlicher Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit. In Innsbruck wurde rund um Franz Thurner 1849 ein Turnverein als „Deutscher Turnverein Innsbruck“ gegründet. Thurner erklärte, es gehe beim Turnen nicht nur um Körperliches, sondern es gehe um Geistiges, nämlich Mut, Entschlossenheit, Selbstbeherrschung und um das gesamte Vaterland.

Denkmal Franz Thurner in Innsbruck, Landesverteidiger 1848, 1859 und 1866, Gründer des Turnwesens und der freiwilligen Feuerwehren

Im Gegensatz zu heutigen Sportvereinen ging es um die Vereinigung von Körper und Geist, verbunden mit politischer Verantwortung.

Innsbrucker Turnverein, gegründet 1849, aufgelöst und 1863 wiedergegründet

1850 wurde der Turnverein Innsbruck nach dem Scheitern der Revolution und dem Beginn der neoabsolutistischen Phase Österreichs verboten. Martin Mayer schrieb einen Abschiedsgruß an die verlorene Freiheit:

Der repressive Staat konnte zwar Strukturen auflösen, der Geist jedoch war unbezwingbar. Durch das Scheitern des politischen Systems Habsburgs, beginnend mit außenpolitischen Krisen und der Niederlage gegen Sardinien 1859, aber auch immer drängenderen innenpolitischen Komplikationen mussten Freiheitsrechte gewährt werden, die sich in der Verfassung 1861 (Februarpatent) niederschlugen. Die verbotenen und verfolgten Turnvereine hatten nun durch die freiheitliche Verfassung neue Möglichkeiten.

Der Turnverein Innsbruck hielt am 13. Oktober 1863, am 50. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, seine Gründungsfeier ab. Der Wahlspruch lautete: „Frisch an Mut, fromm im Rat, froh das Lied, frei die Tat!“. Dabei handelte es sich – wenn man die vorangehende Gründung 1849 ausblendet – nicht um den ersten Turnverein in Tirol.

Der 1832 in Innsbruck geborene Anton Schiestl kam als Handwerkerlehrling nach Bayern, Württemberg, Thüringen und Sachsen und wurde mit den Turnen vertraut gemacht, kehrte schließlich zur Erfüllung der Wehrpflicht nach Tirol zurück. Bei Franz Thurner, der von der Universität Innsbruck als Turnlehrer angestellt wurde, folgte die Ausbildung und in der Folge die Anstellung Schiestls als Hilfsturner an der Universität Innsbruck.

Anton Schiestl nahm mit der Scharfschützenkompanie Franz Thurners am Sardischen Krieg 1859 zwischen Österreich sowie Sardinien und Frankreich teil. Es waren gerade die Turner, die sich maßgeblich durch freiwillige Beitritte zu Scharfschützenkompanien in den Kriegsjahren 1859 auszeichneten, weil der Staat Österreich seinen militärischen Pflichten nicht nachkommen konnte. Die österreichische Niederlage bei Solferino in der Lombardei ebnete den Weg zur italienischen Einigung. Schiestl lernte bei dieser Gelegenheit Bozen kennen, übersiedelte 1860 ganz nach Bozen.

Bereits im November 1860 turnten über 100 Turner unter Schiestl. 1862 wurde der Turnverein Bozen gegründet. Gründungsvorsitzender wurde Hugo von Goldegg, ein Schwiegersohn Johann Putzers von Reibegg. Hugo von Goldegg war Hauptmann im Grenzkampf 1859 und wurde später freiheitlicher Landtagsabgeordneter und Reichsratsabgeorndneter. Anton Schiestl wurde hingegen Turnlehrer.

Bürgermeister Joseph Streiter unterstützte den Turnverein Bozen und kommentierte die Gründung mit den Worten: „Wenn ein Volk heranwachsen soll für die Freiheit, so muss es vor allem auf die Ausbildung der körperlichen Stärke bedacht sein. Der Mut wurzelt in der Kraft, der Geist erlahmt, wenn er nicht von einem rüstigen Körper getragen wird. Was nutzen uns Wissenschaft und Kunst, was Talent und Geist, wenn wir nur ein Volk von Den- kern bleiben, wenn wir das errungene Kapital nicht zu verwerten vermögen im Leben, nicht umzusetzen in die Tat? Ihnen, meine Herren, gebührt der Ruhm der Ausbildung unserer Jugend, für die Hoffnungen der Zukunft den ersten Anstoß gegeben zu haben. Ich danke Ihnen dafür im Namen der Stadt. Möge der Verein, den Sie zu gründen beabsichtigen, blühen, wachsen und gedeihen, möge er der Stolz und Hort werden des heranwachsenden Geschlechts!

Joseph Streiter zur Gründung des Turnvereins Bozen

Der Turnverein Bruneck wurde, wie jener in Bozen, 1862 gegründet. 1862 wurde Eduard von Grebmer zu Wolfsthurn Vorstand des Brunecker Turnvereins. Die Feuerwehr Bruneck wurde 1864 als erste Feuerwehr des heutigen Südtirols gegründet und entstand – wie auch die anderen Feuerwehren jener Zeit – aus dem Turnverein heraus, weshalb sie auch „Turnerfeuerwehr“ genannt wurde. Eduard von Grebmer gehörte zu den Mitbegründern. Ohne Turner wären die Gründungen der freiwilligen Feuerwehren undenkbar gewesen. Die Turner beteiligten sich nicht nur tatkräftig an freiwilligen Kriegseinsätzen, sondern ebenso an der Feuerwehr.

Anton Schiestl stand im deutsch-deutschen Krieg 1866 mit der Bozner Freiwilligenkompanie als Oberleutnant an der Südfront, meldete sich nach 1859 also erneut zum Tiroler Grenzschutz.

1867 wurde der Turnverein Brixen gegründet. Das Turnerwesen war seit den 1860er-Jahren auch in Meran verbreitet, im April 1868 wurde im „Cafe Paris“ eine Generalversammlung abgehalten. 1886 wurde der Turnverein Meran neu gegründet, der freiheitliche Bürgermeister Roman Weinberger regte die Gründung an.

In der Festschrift zum 25. Jubiläumsjahr des Turnvereins Meran ist das folgende Gedicht veröffentlicht, aus dem das Bewusstsein der Turnerschaft mehr als deutlich erkennbar wird:

Turnverein Meran

Die Gründung des Deutschen Reiches im März 1871 entfachte in der deutschfreiheitlichen Bürgerschaft, und besonders bei der Turnerschaft, jubelnde Zustimmung. Die Staatsregierung Österreichs war echauffiert. Der Innsbrucker Bürgermeister konterte, dass ein deutsches Nationalbewusstsein nicht im Kontrast zu einem österreichischen Staatsbewusstsein stehen würde:

Julius Perathoner wurde 1872 Mitglied des Turnvereins Bozen. Schiestl war von 1877 bis 1885 Gauturnwart Südtirols der Deutschen Turnerschaft.

Turnverein Jahn Bozen

Der Turnverein Bozen war nicht ganz frei von inneren Spannungen. 1888 gründeten jüngere Mitglieder des Turnvereins Bozen den Turnverein „Jahn“ Bozen als „Hort echt deutscher Gesinnung“, womit sich die vielfältigen Spaltungen innerhalb des deutschfreiheitlichen Lagers abzeichnen. In der Festrede zum 5-jährigen Bestehen des Turnvereins Jahn wird der Generationenkonflikt zwischen den altehrwürdigen Vertretern des Turnvereins Bozen und den Jungturnern als Ursache des zweiten Bozner Turnvereins erklärt.

Fest-Kommers anlässlich des 5-jährigen Bestehens am 15. November 1893, Festrede von Georg Diem

Der Festredner hob hervor, dass es um die kameradschaftliche Überwindung der Klassengrenzen im Turnerwesen ging, man sich vom „abgehobenen“ Bozner Bürgertum abgrenzenwolle:

Erst, wenn der „alte“ Turnverein die Klassengrenzen überwinde, sei eine Wiedervereinigung denkbar. Liest man sich die Festschrift wird klar, dass der Groll gegen das gehobene Bürgertum ging, das so genannte „Zopfwesen“, das im Zuge der Vorstandswahl 1888 nicht jenes Verhalten an den Tag legte, das sich die Jahnturner erwarteten, die unbedingter waren.

Kurz später folgte eine „Erklärung“

In zahlreichen Orten Tirols entstanden Turnvereine. Die Turner waren eine wesentliche Stütze der Gesellschaft in Tirol, betätigten sich in Geräteturnen, Fußball, Faustball, Tingen oder Alpinismus. Daneben waren die Turnvereine ein Hort deutschfreiheitlicher Kultur. Im Tiroler Kulturkampf lieferten sich die Freiheitlichen und die Klerikalen heftige Auseinandersetzungen, die in zahlreichen Possen endeten, etwa rund um die Sonnwendfeuer oder Herz-Jesu-Feuer. Gerade die Turner pflegten die Tradition der Sonnwendfeuer mit Kommersen.

Die Turnvereine hatten in Südtirol bis 1926 bestand, als das faschistische Italien diese untersagte. Faktisch standen die Turner aber auch schon im liberalen Nachkriegsitalien aufgrund ihres deutschen Bewusstseins im Visier des Staates.

Die Turnvereine wurden nicht nur verboten, sondern beseitigt, weil die Zeiten weder 1945 noch 1968 günstig waren, um ein gesamtdeutsches Bewusstsein an den Tag zu legen. Den Klerikal-Konservativen waren „endlich“ alleine auf weiter Flur. Vereinzelt bestehen die Turnvereine entkomtextualisiert als Sportvereine fort.

Eine Antwort zu „Turnvereine in Tirol: Wehrhaft, freiheitlich und deutschbewusst”.

  1. Avatar von Die Verteidigung der Südgrenze Tirols 1866 – Demanega

    […] streitbaren Stand. Hinzu kamen Studentenkompanien und Scharfschützenkompanien, an denen sich die Turner tatkräftig beteiligten. Daraus ergaben sich über 4.500 […]

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