Das Prinzip Ästhetizismus oder Dandytum gehört historisch in die „Belle Époque“, also in die Wendezeit zwischen 19. und 20. Jahrhundert, und folglich in eine Zeit, in der weitreichende gesellschaftliche, technologische sowie politische Veränderungen die Lebenswelten – zumindest eines Teils der Menschen – kennzeichneten. Das aufstrebende Bürgertum versuchte, diesen Bedeutungszuwachs nach außen hin zu transportieren. Es entstehen Boulevards, Cafés, Ateliers, Cabarets und Salons. Wer sich mit der Grundstimmung jener Zeit nicht befasst, versteht Städte wie Paris oder Wien kaum. Faszinierend ist die Hotelarchitektur der „Grand Hotels“ mit ihrem ehrgeizigen und gesteigerten ästhetischen Anspruch, vielfach auch mit dem zweifelhaften Versuch, die „wilde Natur“ mit modernem Komfort auszustatten.
Das theoretische Konstrukt zur damaligen Epoche umfasst der Begriff des „Ästhetizismus“. Im Ästhetizismus werden das Schöne und das Zweckfreie entgegen der „stumpfen“ Nützlichkeit zum Ideal erklärt. Der Ästhetizismus richtet sich folglich konkret gegen die bürgerliche Nützlichkeit und ihrem Streben nach materieller Vermehrung von Wohlstand ohne Geist. Der Apologet des Ästhetizismus ist der „Dandy“.
Der Dandy steht nach Günter Erbe „immer in einem symbolischen Verhältnis zu seiner Zeit, aber er repräsentiert sie nicht. Er ist nicht zeitgemäß. Als konservativer Rebell sucht er seine Geistesverwandten jenseits der Aktualität seiner Zeit in vergangenen Epochen, in denen sein Ideal von Schönheit, Noblesse und spielerischer Eleganz Gestalt gefunden hat“ [1]. Ästhetizismus ist für den Dandy demgemäß das letzte „heroische Aufbäumen in Zeiten des Verfalls“ – oder zumindest einer Zeit, die mehr und mehr als solche verstanden wurde, weil die gesellschaftlichen Spannungen eklatanter werden.
„Die heutige Rede von Selbsterfindung hat mit den Bestrebungen eines Dandys wenig gemein. Selbstformung und -überwindung erfordern Willenskraft und Askese. So wie der Künstler ein Werk schafft, versucht der Dandy seinem Leben eine bestimmte ästhetische Gestalt und Form zu geben,“ schreibt Günter Erbe.
Und weiter: „Die wahren Überlegenen rekrutieren sich aus den Deklassierten aller Klassen. Der Geburtsadel als Träger der Kultur werde von einer Geschmacks- und Eleganzelite abgelöst, deren Protagonisten der Dandy darstelle. Diese Idee wird von Künstlern begierig aufgegriffen, die wie Baudelaire vom Charakter des Widerspruchs und der Auflehnung gegen die Trivialisierung des Lebens geprägt sind. Der Dandyismus ist für sie das letzte heroische Aufbäumen in Zeiten des Verfalls. Der Aristokratismus des Dandys verbindet sich beim Künstler mit der Protesthaltung eines antibürgerlichen Ästhetizismus. Er erlaubt es, Größe ohne Überzeugungen zu demonstrieren (…) Dieser Dandy versucht, sich den Zumutungen des öffentlichen Betriebs zu entziehen, indem er einen Platz außerhalb des Systems einnimmt“. Das Stichwort lautet vom Leben als ein Kunstwerk.
Das Apologet des Ästhetizismus ist der „Dandy“, der sich als Außenseiter gegen die bürgerliche Welt positioniert. Der Dandy stellt sich dabei insbesondere gegen das bürgerliche Nützlichkeitsdenken. Demgegenüber steht der praktizierte Ästhetizismus als Wert für sich. Er steht auf Distanz zur Gesellschaft und zur Massenkultur. Er positioniert sich außerhalb der Gesellschaft mit einem gewissen Zynismus und praktiziert eine provokative Gleichgültigkeit. Die Orientierung holt sich der Dandy außerhalb des Zeitgeistigen, nämlich im Zeitlosen und in der Klassik. Er orientiert sich an einer geistigen Aristokratie, aus welcher sich ein gewisses Maß an Monumentalität erklärt.
Seiner Zeit steht der Dandy zynisch gegenüber. Reine „Nützlichkeit“ und Profitstreben werden grundsätzlich abgelehnt, ebenso das „Funktionieren“, das in der modernen Welt an die Stelle des wirklichen „Lebens“ tritt. Statt der Nützlichkeit steht die postulierte „Schönheit“ als ein Selbstzweck. Gewissermaßen handelt es sich um ein „provoziertes Leben“, das sich anmaßt, über den Dingen und über der jeweiligen Zeit zu stehen.
Nach Günter Erbe oszilliert der Dandy zwischen „Mitte und Rand der Gesellschaft“, womit auch künstlerische Übertreibungen nachvollziehbar werden. Grundsätzlich handelt es sich beim Dandy um die Verschmelzung von etwas Geistigem und etwas Körperlichem in einem Lebensprinzip, gepaart mit einer entsprechenden Inszenierung.
Umberto Eco erachtet es als Ziel des Ästhetizismus beziehungsweise des Dandys, sein Leben wie ein Kunstwerk zu formen, „um es zu einem triumphalen Exempel von Schönheit zu machen. Nicht das Leben wird der Kunst geweiht, die Kunst wird auf das Leben angewendet. Das Leben als Kunst“ [2].
Ohne das Verständnis für den Ästhetizismus sind weite Teile der Architektur des 20. Jahrhunderts kaum verständlich, etwa die Wiener Moderne oder der Werkbund.
Ging es dem Ästhetizismus um das Gesamtkunstwerk und um die Erhebung der Kunst, ja um eine Flucht aus der bürgerlichen Welt in das Teilgebiet der Kunst und um eine Poetisierung des Lebens, strebte die Avantgarde die Überführung der Kunst in die Lebenspraxis und die „Revolution der Gesellschaft“ an [3]. Mit „Avantgarde“ ist im Französischen begrifflich ein „Stoßtrupp“ gemeint, der eine politische, revolutionäre Haltung, mitunter auch eine Radikalität in der Überwindung der bestehenden Verhältnisse meint.
Zweifelhaft wird der Ästhetizismus immer dann, wenn er zu einem politischen Programm wird. Hier sind Trennlinien zu ziehen. Aber trifft das nicht auf jede Kunst zu, die sich mit Politik vermischt?
Weil wir das Schöne lieben und vom Schönen keine Nützlichkeit verlangen, ist und das Ästhetische zu eigen.
Literatur:
[1] Günter Erbe: „Der moderne Dandy“, Böhlau Verlag, Köln 2013
[2] Umberto Eco: „Die Geschichte der Schönheit“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006
[3] Winfried Eckel: „Die totalitaristische Versuchung der Literatur in Ästhetizismus und Avantgarde. Das Beispiel Stefan Georges und F. T. Marinettis – mit einem Blick auf Gottfried Benn“, Comparatio – Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Heidelberg 2011


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