Keiner von uns kommt heute um die großen Themen der Weltpolitik umher. Ob Verteidigungspolitik und Energiefragen, wirtschaftliche Entwicklungen, Konjunktur und Geschäftsmodelle, die Finanzierung unserer Renten in Zeiten der globalisierten Finanzmärkte, ob technologische Erwartungen, überregionale und internationale Infrastrukturprojekte, die Umwelt- und Klimakrise oder – schlicht und einfach – unsere Gefühlslage; immer wird die Weltpolitik letztlich schlagend. Das wird auch aus der aktuellen Veröffentlichung „Das geopolitische Risiko – Unternehmen in der neuen Weltordnung“ von Katrin Suder und Jan F. Kallmorgen deutlich (Link). Die Autoren legen Unternehmen eine Auseinandersetzung mit Geopolitik nahe, um die Herausforderungen der Zukunft nicht zu verfehlen.
Nur, was leitet die Weltpolitik wirklich? Weltpolitik wird eher nicht aus zeitaktuellen Medienberichten verständlich, die immer aus einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Kontext heraus die Welt zu erklären versuchen, während das Überzeitliche und Übergeordnete gar nicht erkannt werden kann, weil wir alle Teil einer bestimmten Welle und eines Trends sind. Es empfiehlt sich, auf ältere Literatur zurückzugreifen, welche größere Zeiträume umfasst und in diesem Sinne auch die heutige Zeit in einen Gesamtkontext einzugliedern vermag.
Der niederländische Politikwissenschaftler Kees van der Pijl hat 1996 ein sehr intelligentes Buch über Weltpolitik herausgegeben. Darin wird die Weltgeschichte vom Mittelalter bis heute – oder zumindest bis 1996 – in die großen ideengeschichtlichen Strömungen eingegliedert.
Grundsätzlich stehen zwei verschiedene Möglichkeiten der Weltpolitik, die mit Thomas Hobbes und John Locke zu verbinden sind. Während Thomas Hobbes – aus dem Kontext des Bürgerkrieges seiner Zeit – den Staat als Ordner versteht, der die streitenden Parteien ordnet, geht John Locke von einem Optimismus aus, der darauf abzielt, die Gesellschaft durch Vernunft und Gesellschaftsvertrag zur Einheit zu bewegen. Außenpolitisch läuft das Politikmodell bei Hobbes auf ein Gleichgewicht der Mächte hinaus, während das Gesellschaftsmodell bei Locke darauf abzielt, alle im Sinne einer „One world“-Politik zu Frieden, Freiheit und Kooperation zu bewegen.

Was in dem von Van der Pijl herausgegebenen Buch evident wird – und wohl auch am Publikationsdatum liegen mag – ist die Divergenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die wir heute aufgehoben glaubten. Van der Pijl unterstreicht in diesem Sinne die wirtschaftlichen Verflechtungen und Interessen, die mit dem lockeschen Politikmodell zusammenhängen und sowohl im Falle Großbritanniens als auch der Vereinigten Staaten die Außenpolitik maßgeblich antreiben.
Evident wird allerdings auch noch etwas anderes: Die Weltgeschichte ist ein Auf und Ab oder ein Hin und Her zwischen Ordnungspolitik, stärkerem Staat und Gleichgewicht der Mächte und Freiheitspolitik, Liberalisierung und internationale Kooperation im Sinne von Freiheit und Gleichheit. Waren wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten weltpolitisch eher im Sinne John Lockes unterwegs, so ebnet sich unter dem Eindruck des Rückzugs der Vereinigten Staaten aus der One-World-Politik, dem Erstarken nicht-westlicher Mächte wie China und Indien und durch das aus westlicher Sicht aggressive Verhalten des Paria-Staates Russland ein Machtkampf im Sinne Thomas Hobbes. Diesen Umstände kann man zwar mehr als kritisch gegenüber stehen, ein realistischer Zugang zur Welt trägt ihnen aber zumindest Rechnung und plant diese ein.
In diesem Sinne plädiert der Politikwissenschaftler Christian Hacke für „Mehr Bismarck, weniger Habermas“: „Nachhaltige nationale Interessenpolitik versteht sich nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum zivilen Gemeinschaftsgedanken. Eine stabile, friedliche Weltordnung kann nur erreicht werden, wenn im Umgang mit „klassisch-machtpolitisch“ ausgerichteten Staaten wie Russland, China und Iran auch die demokratischen Zivilmächte willens sind, alle Mittel zur Selbstbehauptung zu mobilisieren. Etwas mehr Bismarck und weniger Habermas wäre wünschenswert“ (Link).
Bei Jürgen Habermas ist von einem Abgang von einer „Außenpolitik“ und einer Hinwendung zu einer „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“ die Rede, womit der Idealismus bei John Locke weiter getrieben wird. Eine supranationale Weltorganisation tritt an die Stelle der Staaten – eine solche Konstellation könnte unter Umständen wünschenswert sein, zielt aber am Wesen unserer Welt und an der Wirklichkeit vorbei.
Evident wird insbesondere aber auch eines: Es gibt kein Ende der Geschichte und es hat auch nie eines gegeben. Die Geschichte will geschrieben werden und wir alle schreiben diese als Staatsbürger im Sinne einer Res publica mit.
In diesem Sinne schließt Van der Pijl die Publikation kryptisch ab:
Das weltpolitische Denken steht jedenfalls an der Schwelle eines neuen Zeitalters.
Kees van der Pijl, 1996
Literatur:
Kees van der Pijl: „Vordenker der Weltpolitik Einführung in die internationale Politik aus ideengeschichtlicher Perspektive“, Leske + Budrich, Opladen 1996
Christian Hacke: „Mehr Bismarck, weniger Habermas – Ein neuer Realismus in der deutschen Außenpolitik?“, Zeitschrift „Internationale Politik“, Juni 2006