Orania, eine kleine Siedlung in der südafrikanischen Provinz Nord-Kap, ist ein Ort, der wie kein anderer in Afrika, Emotionen hervorruft. Diese reichen von aufopferungsvoller Unterstützung bis hin zu scharfer Ablehnung. Oberflächlich betrachtet ähnelt Orania vielen ländlichen Siedlungen weltweit: ethnisch homogen, landwirtschaftlich geprägt, ein unspektakulärer Ort, an dem fast jeder jeden kennt und man oft zusammen feiert, aber auch streitet. Der erste Eindruck, den ein Besucher gewinnt, könnte dem einer Siedlung im Mittleren Westen der USA oder im Outback Australiens ähneln. Doch trotz dieser scheinbaren Normalität verbirgt sich hinter Orania eine tiefere, komplexe Geschichte.
Was Orania von anderen Siedlungen unterscheidet, ist seine Entstehungsgeschichte. Es wurde nicht wie andere Dörfer aufgrund der strategischen Lage oder des Vorhandenseins von Bodenschätzen gegründet, sondern bewusst als Keimzelle eines zukünftigen Staates oder zumindest eines autonomen Gebiets. Diese Initiative ging nicht von staatlicher Seite aus, sondern wurde von einer Gruppe Idealisten ins Leben gerufen, die das Überleben ihres Volkes in einem abgelegenen, dünn besiedelten Gebiet sicherstellen wollten. In einer Zeit, in der das politische Klima in Südafrika einem dramatischen Wandel unterworfen war, schuf diese Gruppe einen Ort, an dem die afrikaanssprachige Kultur und Identität gewahrt werden sollten.

Die 1990er Jahre waren für Südafrika eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Als am Ende des Kalten Krieges Mauern und Grenzen fielen und ehemalige Feinde sich versöhnten, wurde auch in Südafrika die vermeintlich verheißungsvolle Zukunft einer gemeinsamen Regenbogen-Nation beschworen. Diese Vision beinhaltete die Hoffnung, dass verschiedene ethnische Gruppen harmonisch zusammenleben könnten. Doch eine Gruppe von Angehörigen der afrikaanssprachigen Minderheit sah in dieser Vision eine Bedrohung ihrer kulturellen Identität und beschloss, sich diesem propagandistischen Sog zu entziehen. In diesen bewegten Zeiten gründete sie die Siedlung Orania, die sich den Herausforderungen der Zeit stellte und dennoch ihren eigenen Weg suchte. Trotz großer Widerstände und Anfeindungen überlebte Orania, aber sicher und gilt heute als eine der wenigen Erfolgsgeschichten des post-apartheidlichen Südafrikas.
Über 30 Jahre nach der Gründung Oranias hat sich die Welt verändert, und die Siedlung steht vor neuen Herausforderungen. Die ersten Jahre waren geprägt von politischer Turbulenz. Dennoch war der Grundsatz „Unabhängigkeit durch eigene Arbeit“, den die Führung von Orania vertrat, für die Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Man wollte bewusst und in Abgrenzung zum Apartheidsystem nicht auf billige Lohnarbeit der schwarzen Mehrheitsbevölkerung zurückgreifen, sondern den Aufbau der Siedlung selbst in die Hand nehmen. Es war dieser Ansatz, der die Oranier antrieb und ihnen half, ihre Identität und Kultur zu bewahren.
Das Buch „Orania – Der Gedanke, die Bewegung und das Dorf“ bietet einen tiefen Einblick in diese komplexe Geschichte und die Herausforderungen, mit denen Orania konfrontiert war und ist. Es beleuchtet nicht nur die politischen und sozialen Aspekte der Siedlung, sondern gibt auch den Menschen, die dort leben, eine Stimme. Ihre Geschichten sind geprägt von Entschlossenheit und einem unerschütterlichen Glauben an die eigene Zukunft. Die Leser erhalten die Möglichkeit, die Motivation und den Antrieb der Menschen hinter diesem einzigartigen Projekt nachzuvollziehen.
In den letzten Jahren ist das Interesse an Orania gewachsen, nicht nur in Südafrika, sondern auch international. In diesem Kontext wird die Verbindung zwischen Orania und dem Südtiroler Freundeskreis der Afrikaaner immer relevanter. Der Freundeskreis aus Südtirol hat sich zum Ziel gesetzt, die die afrikaanssprachige Minderheit zu unterstützen und hat sich zu einem wichtigen Partner außerhalb Südafrikas entwickelt. Die Parallelen in der Geschichte und Minderheitensituation, mit denen sowohl die Südtiroler als auch die Afrikaaner konfrontiert sind, bilden die Grundlage für ein gegenseitiges Verständnis über Kontinente hinweg. Die Publikation wird dementsprechend auch mit einem Bericht über die Tätigkeiten des Südtiroler Freundeskreises abgerundet.

Das Buch von Sebastian Biehl wird von einem breit gefächerten Vorwort eingeleitet, in dem Joost Strydom, Direktor der Orania-Bewegung, Gino Bentivoglio, Obmann des Südtiroler Freundeskreises der Afrikaaner, sowie Dr. Luis Durnwalder, Alt-Landeshauptmann von Südtirol, zu Wort kommen. Diese Beiträge zeigen die Verbindungen der Afrikaaner-Bewegung zu internationalen Unterstützern, auch in Südtirol.
Biehl gelingt es, die Ideale eines eigenständigen Afrikaaner-Staates anschaulich darzulegen. Besonders für Leserinnen und Leser, die sich bisher nur wenig mit dieser Thematik beschäftigt haben, bietet der Autor eine gut verständliche Einführung. Schritt für Schritt schafft er so die Grundlage, um die Hintergründe und Überzeugungen der Bewegung in ihrer Tiefe zu erfassen.
Im Hauptteil richtet sich der Fokus auf die Siedlung Orania selbst, deren Werte und Ideale im Alltag der Gemeinschaft lebendig werden. Hier tritt der kulturelle Reichtum der Afrikaander besonders deutlich hervor und vermittelt auch Außenstehenden ein tieferes Verständnis für den starken Zusammenhalt und die Selbstbestimmung dieser einzigartigen Gemeinschaft.
Insgesamt bietet das Buch „Orania – Der Gedanke, die Bewegung und das Dorf“ einen tiefen Einblick in die komplexe Geschichte und die Herausforderungen, mit denen Orania konfrontiert war und ist. Es zeigt, wie eine kleine Gemeinschaft nicht nur überleben, sondern auch gedeihen kann, wenn sie sich zu ihren Wurzeln bekennt und für ihre Werte eintritt.
Abschließend bleibt zu sagen, dass die Lektüre dieses Buches nicht nur für diejenigen von Interesse ist, die sich für die Geschichte Südafrikas interessieren, sondern auch für alle, die sich mit Fragen der Identität, Kultur und Selbstbestimmung auseinandersetzen. Orania ist nicht nur ein Ort, sondern ein lebendiges Beispiel für den unaufhörlichen Kampf um die eigene Identität in einer sich ständig verändernden Welt.
ISBN: 979-12-5532-059-3


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