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Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen

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Zahlreiche Zeitgenossen sind immer wieder unbedarft überrascht, dass Staaten und Staatspolitiker ihre Interessen machtpolitisch wahrnehmen und außenpolitisch durchsetzen. Dass ohnehin alle nur noch „Freunde“ auf dem Weg zum „ewigen Frieden“ seien, ist eine naive Vorstellung liberaler Prägung, die sich in der Wirklichkeit nicht bewahrheiten kann.

Dass Staaten vor allem Interessen verfolgen, darin auch der demokratische Auftrag der Verfasstheit besteht, ist ein Umstand, der realpolitisch immer wieder deutlich zutage tritt. Wer sich dieser Evidenz verschließt, verschließt sich der Wirklichkeit mit der Konsequenz, keinen realpolitischen Einfluss auf den Gang der Dinge zu haben, sich machtpolitisch nicht artikulieren zu können.

Der Neorealismus in der Außenpolitik ist eine theoretische Perspektive, die sich auf die internationale Beziehungen konzentriert und davon ausgeht, dass Staaten als rationale Akteure handeln, um ihre Sicherheit und ihre Interessen in einer ungeordneten Welt zu maximieren.

Ähnlich wie der Markt in der Regel ein Konkurrenzprinzip verursacht, bei dem sich in dem Streben nach Gewinnmaximierung ein Gleichgewicht ergibt, das allerdings nicht die Befriedung aller Interessen verwirklicht, streben Staaten nach Sicherheitsmaximierung, woraus sich ein machtpolitisches Gleichgewicht ergibt.

Ausgehen von der Einsicht, dass Staaten eher Interessen als Freunde haben und infolgedessen nach Selbsterhalt und mitunter auch nach Machtausbau streben, ergeben sich vielfältige Komplikationen, wovon die derzeitige Lage der Welt zeugt.

Die Perspektive Neorealismus wurde vor allem durch die Arbeit des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Kenneth Waltz geprägt.

Im Neorealismus wird argumentiert, dass die internationale Politik durch Interessenslagen charakterisiert ist und es keine übergeordnete ausgleichende Autorität gibt, zumindest keine, die auf absehbare Zeiten von allen Akteuren anerkannt wird und über die notwendige ausgleichende Funktion verfügt. Aus diesem Grund treffen Staaten ihre eigenen Sicherheitsmaßnahmen, um Bedrohungen abzuwehren und ihre Interessen zu schützen. Vielfach natürlich auch im Verbund mit anderen Staaten.

Der Neorealismus unterscheidet zwischen multipolaren, bipolareren und unipolaren Systemen, wobei das Überleben der Staaten und das Verhalten der Akteure stark von dieser Struktur beeinflusst werden.

Des Weiteren betont der Neorealismus die Bedeutung von „Balance of Power“ (Machtgleichgewicht) und des Sicherheitsdilemma. Das Konzept des Machtgleichgewichts bezieht sich darauf, dass Staaten bestrebt sind, ein Gleichgewicht der Macht zu erhalten, um potenzielle Aggressoren abzuschrecken. Das Sicherheitsdilemma beschreibt die Situation, in der Maßnahmen eines Staates zur Stärkung seiner eigenen Sicherheit von anderen Staaten als Bedrohung wahrgenommen werden können, was zu einem Eskalationszyklus führen kann.

Im Gegensatz zum Neoliberalismus, der davon ausgeht, dass Staaten durch Kooperation und internationale Institutionen sowie durch das Streben nach Fortschritt den Zustand Frieden und Stabilität erreichen können, betont der Neorealismus die inhärente Konkurrenz und den Überlebenskampf zwischen Staaten. Er legt den Fokus auf die strukturellen Bedingungen, die das Verhalten der Staaten bestimmen, und argumentiert, dass die Anarchie des internationalen Systems die Grundlage für die ständige Suche nach Sicherheit und Macht bildet.

In der Praxis beeinflusst der Neorealismus die Außenpolitik vieler Staaten, insbesondere in Bezug auf Sicherheitsfragen, Bündnispolitik und strategische Entscheidungen. Staaten streben danach, ihre Sicherheit durch militärische Stärke, Allianzen und strategische Positionierung zu gewährleisten, wobei sie die Machtverteilung in der internationalen Arena ständig im Auge behalten. Demgemäß kontrastiert der Neorealismus das Verhalten von Staaten, die völlig sorgenlos in die Zukunft blicken und überoptimistisch davon ausgehen, dass sich ein allgemeiner Friede einstellen werde.

Der Neorealismus betrachtet Staaten als die Hauptakteure in der internationalen Politik und betont den Einfluss der Machtverteilung auf das Verhalten dieser Akteure.

Neben dem Neorealismus gibt es in Bezug auf internationale Beziehungen verschiedene politische Strömungen, darunter:

  1. Neoliberalismus: Betont die Bedeutung von Institutionen, internationaler Abkommen und zwischenstaatlicher Kooperation zur Lösung gemeinsamer Probleme und zur Förderung des Friedens.
  2. Konstruktivismus: Legt den Schwerpunkt auf die Rolle von Ideen, Normen und Identitäten bei der Gestaltung des Verhaltens von Staaten und internationalen Akteuren. Konstruktivisten argumentieren, dass die Wahrnehmung von Interessen und Bedrohungen sowie die Formulierung von Zielen und Strategien durch soziale Prozesse geprägt sind. Dabei können internationale Institutionen, kulturelle Werte und historische Erfahrungen die Konstruktion von Bedeutungen und Handlungsmustern beeinflussen. Im Kontrast zum Realismus und Neorealismus betont der Konstruktivismus die Möglichkeit des Wandels in den internationalen Beziehungen durch den Einfluss von Ideen und Identitäten.
  3. Liberalismus: Befürwortet demokratische Prinzipien, Menschenrechte und internationale Zusammenarbeit als Mittel zur Förderung des Friedens und der Stabilität.
  4. Marxismus und Kritische Theorie: Betont die Bedeutung von Klassenkämpfen, wirtschaftlichen Strukturen und imperialistischen Dynamiken bei der Analyse internationaler Beziehungen.
  5. Feministische Internationale Beziehungen: Analysiert internationale Beziehungen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive und untersucht die Auswirkungen von Geschlecht auf Machtstrukturen und politische Prozesse.
  6. Umwelt- und Nachhaltigkeitsstudien: Analysieren die Auswirkungen von Umweltveränderungen, Klimawandel und Nachhaltigkeitsfragen auf internationale Beziehungen und Sicherheit.

Der Neoliberalismus legt hingegen den Fokus auf internationale Institutionen und Regeln, und glaubt, dass diese dazu beitragen können, Konflikte zu mildern und kooperatives Verhalten zu fördern.

Die Kritische Theorie, die man eigentlich eher in den Sozialwissenschaften verorten würde, kritisiert bestehende Machtstrukturen, untersucht die Rolle von Machthegemonien und Ungleichheiten und befürwortet alternative Formen der Konfliktlösung, die auf Frieden, Kooperation und Solidarität zwischen Staaten und Völkern abzielen, anstatt auf Konfrontation und hegemoniale Machtgefälle. Vielfach sind diese Theorien nur in eine idealisierten Welt, die von der realen Welt deutlich abweicht, denkbar.

Die Sicherheitsexpertin Florence Gaub zeichnet ein realistisches Bild von der europäischen Sicherheitspolitik und kritisiert, dass „Europa grundsätzlich mit jeder Form von sicherheitspolitischem Engagement hadert, sei es aus historischen Gründen, aus Mangel an militärischer Kapazität oder aus seinen postheroischen Gesellschaften heraus, die Gewalt als unnatürlich wahrnehmen“. Gaub kontert: „Doch diese Haltung verkennt, dass Militär durchaus ein sinnvolles außenpolitisches Mittel sein kann – sei es, um Friedensabkommen zu sichern, Abschreckung zu erreichen oder Milizen zu entwaffnen. Will Europa in Nah- und Mittelost gehört werden, wird es seine traditionelle Abneigung gegen das verteidigungspolitische Element der Außenpolitik ablegen müssen“ [3].

Florence Gaub plädiert insgesamt dafür, dass die militärische Kapazität heute nicht die massivste, sondern die agilste sein muss, mit der höchsten technologischen Ausstattung und Fokus auf Qualität statt Quantität.

Literatur:

[1] Carlo Masala: „Weltunordnung: Die globalen Krisen und das Versagen des Westens“, Hanser Verlag, München 2022

[2] Alexander Siedschlag: „Neorealismus, Neoliberalismus und postinternationale Politik Beispiel internationale Sicherheit — Theoretische Bestandsaufnahme und Evaluation“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1997

[3] Sarah Pagung, Günter Seufert, Florence Gaub, David Jalilvand, Amaka Anku, Mikko Huotari: „Dein Einsatz, Europa! Russland, Türkei, Nah- und Mittelost, Iran, Afrika, Asien-Pazifik: Wie die EU sich jetzt geopolitisch positionieren muss“, Internationale Politik, 1/2021

15 Antworten zu „Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen”.

  1. Avatar von Moderne Politik von rechts – Teil 2 – Demanega

    […] Politik trägt dazu bei, die Interessen eines Landes in internationalen Beziehungen zu fördern und erteilt postpolitischen Perspektiven […]

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  2. Avatar von Geopolitik und Geotechnik: Konflikte rund um Infrastruktur und Ressourcen – Demanega

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  3. Avatar von Gespaltene Weltmacht USA: Ausblick und Folgen – Demanega

    […] Welt im Krieg: Internationale Konflikte und Theorie Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen […]

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  4. Avatar von Buchbesprechung: Franz-Stefan Gady: „Die Rückkehr des Krieges“ – Demanega

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  5. Avatar von Ordnung und Ökonomie der öffentlichen Sicherheit – Demanega

    […] man sich mit neorealistischen Theorien in der Außenpolitik, so wird von einer grundsätzlichen machtpolitischen Anarchie ausgegangen, innerhalb derer es auf […]

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  6. Avatar von Machiavelli – Demanega

    […] anstreben aber auch die Grundlage zahlreicher zeitgenössischer Theorien, die im Bereich des politischen Realismus anzuordnen […]

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  7. Avatar von Die „heilige“ Brennergrenze und ihre machtpolitische Relevanz – Demanega

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  8. Avatar von Streiten, aber richtig! – Demanega

    […] Geopolitik ist im Sinne neorealistischer Perspektiven der beste Beweis einer auf Auseinandersetzung beruhenden Weltordnung. […]

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  9. Avatar von Das Nein setzt die Verhandlungsgrenzen – Demanega

    […] Fisher und William Ury sind ursprünglich Konfliktforscher bezüglich internationaler Krisen. Von daher ist die Komponente Macht in den Ausführungen stets […]

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  10. Avatar von Internationale Konflikte und Interventionsoptionen – Demanega

    […] Anarchie aus und unterstellen jedem internationalen Akteur Eigeninteressen nach dem Leitsatz: Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen. Im Gegensatz zu ideologischen Theorien, die leugnen, dass Staaten eigenständige Akteure sein […]

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  11. Avatar von Von „Südtirol“ zu „Alto Adige“? Autonomiereform und Konsequenzen – Demanega

    […] allerlei Egos im Recht sehen wollen und am Ende nur schlechte Kompromisse möglich sein werden. Neo-Realisten wissen, dass internationale Vereinbarungen eine Frage der jeweiligen Machtposition […]

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  12. Avatar von Der Kaschmir-Konflikt: Geopolitische Vormachtstellung in Asien – Demanega

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    […] Aufkommen einer multipolaren Welt erhöht die Verhandlungsposition aller Staaten, so auch Saudi-Arabiens, gegenüber den […]

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