In den internationalen Beziehungen ist der Neorealismus eine der einflussreichsten Theorieströmungen. Er bietet eine nüchterne, oftmals als „kalten Realismus“ empfundene Perspektive auf die Weltpolitik, eine Sichtweise, in der Macht und Sicherheit im Mittelpunkt stehen, nicht Moral, Hypermoral oder übersteigerte Werte.
Der Neorealismus, geprägt durch Kenneth Waltz, geht davon aus, dass das internationale System von Anarchie bestimmt sei – es gibt keine übergeordnete Weltregierung, die Sicherheit garantiere oder Regeln durchsetze. Staaten befinden sich in einem permanenten Sicherheitsdilemma: Um sich selbst zu schützen, müssen sie ihre Machtposition stärken. Das wiederum führt zu einem Wettlauf um Rüstung, Allianzen und Einflusszonen.
Faktisch läuft die derzeitige Ankündigung der deutschen Bundesregierung, die stärkste Militärmacht in Europa bilden zu wollen, darauf hinaus, im Ernstfall über ein Abschreckungspotential zu verfügen und dadurch Macht zu gewinnen.
Frieden ist laut Neorealismus nicht das Ergebnis von Ideologien oder moralischen Absichten, sondern eine Reaktion auf die strukturellen Zwänge des Systems. Staaten handeln rational und zweckorientiert, im Wesentlichen nicht gut oder böse, sondern funktional.
Oft wird dem Neorealismus vorgeworfen, er blende moralische Fragen aus oder rechtfertige skrupelloses Machtstreben. Das trifft den Kern der Theorie nicht. Der Neorealismus ist amoralisch, nicht unmoralisch: Er bewertet das Handeln von Staaten nicht nach ethischen Maßstäben, sondern versucht zu erklären, warum sie sich in bestimmter Weise verhalten.
Diese analytische Haltung ermöglicht eine wertfreie Beobachtung internationaler Prozesse. Dadurch kann der Neorealismus Konflikte, Machtverschiebungen und außenpolitische Entscheidungen oft realistischer einordnen als idealistische bis romantische Theorien.
Gerade seine Nüchternheit macht den Neorealismus angreifbar. Kritiker bemängeln, dass er wichtige Aspekte wie internationale Kooperation, Menschenrechte oder globale Gerechtigkeit ausklammere. Zudem vernachlässige er den Einfluss nichtstaatlicher Akteure oder innerstaatlicher Dynamiken.
In einer zunehmend multipolaren Welt, in der Großmächte wie die USA, China, Russland, Indien und die EU parallel aufrüsten, gewinnt der Neorealismus neue Aktualität. Kenneth Waltz’ Theorie betont, dass Staaten im anarchischen internationalen System gezwungen sind, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen – besonders dann, wenn keine übergeordnete Instanz existiert, die Stabilität garantiert. In einem multipolaren System steigt die Unsicherheit, da mehr Akteure mehr potenzielle Bedrohungen bedeuten. Staaten reagieren darauf mit einem Sicherheitsdilemma: Die Aufrüstung des einen wird von anderen als Bedrohung wahrgenommen – und führt zu weiterer Aufrüstung.
Ein zentrales neorealistisches Zitat dazu lautet: „In self-help systems, the pressures of competition weigh more heavily than ideological preferences or internal politics.” (Waltz, Theory of International Politics, 1979).
Die neoreale Logik spiegelt sich in der aktuellen Entwicklung der globalen Verteidigungsausgaben wider: Laut SIPRI stiegen die weltweiten Militärausgaben 2024 auf ein Rekordhoch von über 2,4 Billionen US-Dollar – getrieben durch wechselseitiges Misstrauen und strategisches Konkurrenzdenken.
Der Neorealismus liefert damit eine plausible Erklärung für die Dynamiken in einer Welt, in der viele Mächte gleichzeitig aufrüsten: Nicht Aggression oder Ideologie stehen im Vordergrund, sondern strukturell bedingte Unsicherheit und das Streben nach Überlebenssicherung im internationalen System.


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