Noch 2008 sorgte man sich im Tourismus in Südtirol, dass die touristischen Betriebe zu klein und darum „unrentabel“, Liftanlagen nicht ausgelastet seien. 2025 ist längst von „Overtourism“ die Rede. Die Tourismus-Entwicklung zeigt eindrucksvoll, wie schnell die Raumentwicklung in das Gegenteil umschlagen kann.
Alfons Benedikter setzte eine restriktive Raumordung. Man kann zu Recht behaupten: Ohne diese restriktive Auslegung der Raumordung, mit welcher einer Tendenz Einhalt geboten wurde, die längst drauf und dran war, Hotelprojekte auf der grünen Wiese entstehen zu lassen, „würde die Seiser Alm heute aussehen, wie Rimini“, wie ein bekannter Südtiroler Architekt untermauert.
Diese wurde allerdings spätestens Ende der 1980er-Jahre aufgelockert, 1992 novelliert, 1997 in eine neues Landesraumordnungsgesetz übergeführt und insgesamt durch allerlei Liberalisierungen und Ausnahmen ausgehebelt. Freilich, eine dynamische Gesellschaft benötigt Freiraum, das steht außer Zweifel. Da und dort wurde allerdings zunehmend der Verdacht befördert, es seien Privilegien für Einzelne verwirklicht worden.
„Bis 1997 entstand ein neues Raumordnungsgesetz, in das in Zusammenarbeit zwischen Landesregierung und HGV für den Tourismus relevante Neuerungen einflossen. Sie lauteten „Qualitative“ und „Quantitative Erweiterung“, eine griffige Formel, die spätestens ab 1997 ein Jahrzehnt lang Diskussion und Praxis beherrschte. Damit reagierte man auf gehobene Gästeansprüche, denen „Fließend Deutsch und Warmwasser“, wie ein älterer Slogan lautete, nicht mehr genügte. Das Konzept „qualitative Erweiterung“ war aber ein Euphemismus, da der Qualitätsgewinn nur unter der Bedingung sprunghaft erweiterter Bauvolumina zu haben war. Bald war in Tourismusorten ab 1998 ein Wald von Kränen zu sehen“ schreibt der Historiker Hans Heiss für die Südtiroler Architekturstiftung.
Den Anfang nahm die qualitative Erweiterung, um die bestehenden Zimmer und die Nebeneinrichtungen an die modernen Wünsche der Gäste anzupassen. Daneben wurde eine quantitative Erweiterung ermöglicht: In touristisch stark entwickelten Gemeinden mit mehr als 1 Gästebett pro Einwohner war die quantitative Erweiterung nur sehr begrenzt möglich, in touristisch unterentwickelten Gemeinden mit weniger als 0,3 Gästebetten pro Einwohner unbegrenzt. Im Raumordnungsgesetz von 1997 wurde eine maximale Bettenanzahl von 229.088 Betten festgeschrieben, dem Wert von 1985, dem zahlreiche Betriebsschließungen folgten [4].
Die Bautätigkeit wurde Anfang der 2000er-Jahre sogar noch verstärkt: „Nach eingehender Debatte wurden 2007, 10 Jahre nach Verabschiedung des Raumordnungsgesetzes, Neubau und Erweiterung von Betrieben auch in entwickelten Gebieten, sogar in Hochburgen gestattet. Bedingung war die Vorlage eines „Tourismusentwicklungskonzepts“ (TEK) von Seite interessierter Gemeinden. Viele Gemeinden wiesen in der Folge zügig Tourismuszonen aus, zumal neue Hotels hohe Erschließungsgebühren und Einnahmen aus der Immobiliensteuer versprachen. Die Entwicklung verblieb jedoch deutlich unter der sog. „Bettenobergrenze“, die das Raumordnungsgesetz von 1997 mit 229.088 festgelegt hatte, dem Wert des Stichjahrs von 1985.“
Landesrat Thomas Widmann, der von 2003 bis 2008 für Tourismus zuständig war (es folgte Hans Berger) trat dafür ein, mehr Freiraum „betriebswirtschaftlicher und angebotstechnischer“ Natur für Beherbergungsbetriebe zu schaffen. „Wir brauchen Maßnahmen, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermö;glichen, denn es ist nicht mehr mö;glich, ö;ffentliche Mittel für Investitionen bereitzustellen, die sich nicht langfristig rechnen“ argumentierte Widmann und meinte damit zahlreiche Aufstiegsanlagen (die Ski-Lifts), die sich angesichts hochverschuldeter Liftgesellschaften nur rechnen würden, wenn es im Einzugsgebiet „mehr Betten“ gebe.
Die Verlautbarungen jener Zeit lesen sich 17 Jahre später wie die Berichte aus einem anderen Jahrhundert: „Als Beispiel für Problemfälle nennt er Skigebiete im Vinschgau, den Rosskopf oder auch Gitschberg/Vals. Diese könnten nur bestehen, wenn es im Einzugsgebiet mehr Betten gibt, um eine bessere Auslastung der Anlagen zu ermöglichen. Eine Sondersituation besteht dabei auf der Plose, wo es nicht nur 1.000 zusätzliche Gästebetten bräuchte, um ein wirtschaftliches Überleben zu sichern, sondern noch zusätzliche Investitionen notwendig seien, um die Erreichbarkeit zu verbessern oder ein Zentrum zu schaffen, das zum Verweilen und Flanieren einlädt. Auch manche attraktive Skigebiete wie Obereggen könnten nur erfolgreich bleiben, wenn es im Umfeld mehr Gästebetten gibt, die eine angemessene Auslastung der Anlagen an Wochentagen gewährleisten“ [4].
Ausgearbeitet wurden innerhalb entsprechender Kommissionen auf Landesebene, denen Landesämter und Experten angehörten, Tourismusentwicklungskonzepte und Tourismusentwicklungspläne. Diese wurden von der Südtiroler Landesregierung genehmigt und sodann in den Gemeinden durch Bauleitplanänderungen umgesetzt. Die drastischen Bettenaufstockungen waren – aus der 2008er-Sicht – deshalb notwendig, denn „viele Zimmer, die im Zuge der qualitativen Erweiterung in Form von Personalzimmern geschaffen worden sind, werden als Gästezimmer verwendet oder sollen in solche umgewandelt werden“ [4]. Viele Betriebe seien damals aufgrund einer ungünstigen Betriebsgröße wenig produktiv gewesen, konkret aufgrund eines unterdurchschnittlichen Umsatzes pro Mitarbeiter, sodass aus damaliger Sicht Bettenerhöhungen dringend notwendig gewesen seien.
Nach der Wirtschaftskrise setzte ein regelrechter Tourismus-Boom an mit allerlei Investitionslust auf Tourismusseite: „In acht Jahren, von 2015 bis Ende 2022, stieg die Gesamtzahl der Betten in Südtirol von 220.000 auf 239.000“ [1].
Südtirol erzielte im Jahr 2023 8,4 Millionen Gäste und 36 Millionen Nächtigungen. Derartige Zahlen werfen natürlich zahlreiche Fragen auf. Die natürlichen Ressourcen werden nicht mehr, sondern weniger, Nachhaltigkeit sollte ein Prinzip und keine Floskel sein, die Infrastruktur ist insgesamt begrenzt, der Landschaftsschutz sollte für alle gleichermaßen gelten. Problematisch im Bereich Tourismus ist in Südtirol, dass die öffentliche Meinung ins Negative umschlägt und sich dadurch ein kritischer Zustand ergeben kann.
Findet Tourismus nicht breiten Rückhalt in der Bevölkerung, dann sind die politischen und gesellschaftlichen Probleme vorprogrammiert. Insbesondere eine ganze Reihe an Hotels mit Mega-Strukturen sowie umfangreiche qualitative und quantitative Erweiterungen haben in Südtirol das gefühlte Bild eines ausufernden Tourismus bestärkt. Dabei folgt der Tourismus natürlich allgemeinen Tendenzen nach aufsehenerregender Architektur mit geringer Halbwertszeit.
In Südtirol gilt mit Dekret des Landeshauptmanns vom 26. September 2022, Nr. 25 ein Bettenstopp. Gemeint ist damit eine Bettenobergrenze, um dem so genannten „Übertourismus“ Einhalt zu gebieten. Allerdings bestehen eine ganze Reihe an Ausnahmen, etwa Urlaub am Bauernhof, Betten in historischen Ortszentren, aber auch bereits erworbene Baurechte und ausgewiesene, aber nicht realisierte Tourismuszonen. Letztere haben ein Ablaufdatum gemäß Gesetz bis 30. September 2026, folglich wird verstärkt gebaut, um die Rechte letztlich nicht zu verwirken: Wer bis zu jenem Stichtag nicht den Baubeginn meldet, hat die erworbenen Rechte verloren. Hinzu kommen Ausnahmen im Bereich Zimmervermietungen, Stichwort AirBNB.
Der Bettenstopp wurde auf 229.000 bestehende Betten in Südtirol im Jahr 2019 bezogen, 10.000 weitere waren bereits genehmigt und 7.000 als Puffer festgesetzt. Aufs ganze Land bezogen herrschen Intransparenz und mangelnde Kontrolle vor. Das allgemeine Urteile lautet auf Tourismusseite: Ein generelles Stopp würde auch zu Lasten der strukturell unterentwickelten Gemeinden gehen.
Das Kontingent für freie Betten ist auf Gemeindeebene und auf Landesebene festgelegt: „Um einen Stillstand der Branche zu vermeiden, werden 7000 Gästebetten auf Gemeinde- und 1000 auf Landesebene als Vorschuss gewährt werden, erläutert der Landesrat. Die zugeteilten Gästebetten müssen jedoch innerhalb von zehn Jahren mit aufgelassenen Betten ausgeglichen werden.“
Mit dem neuen Landesraumordnungsgesetz von 2018 sind Tourismuszonen außerhalb der Siedlungsgebiete stark eingeschränkt: „Gastgewerbliche Tätigkeit ist in Mischgebieten und in Sondernutzungsgebieten, die für die Tourismusentwicklung (Tourismusentwicklungsgebiet) bestimmt sind, zulässig. Abgesehen von der Erweiterung bestehender Betriebe gemäß Artikel 35 ist außerhalb des Siedlungsgebietes die Errichtung neuer Baumasse zur Zweckbestimmung für gastgewerbliche Tätigkeit ausschließlich in Tourismusentwicklungsgebieten zulässig.“
Die Restriktion ist wie folgt festgelegt: „Die Architektur und die Bebauung in den Tourismusgebieten zielen auf Stimmigkeit der Bauten mit dem Landschaftsbild und der Umgebung. Wird ein Tourismusgebiet im Gemeindeplan außerhalb des Siedlungsgebietes ausgewiesen oder wird die Baumassendichte von 3 m³/m² überschritten, ist die Gemeinde verpflichtet, vor der Ausweisung beim Landesbeirat für Baukultur und Landschaft eine Stellungnahme zum Bauprojekt einzuholen. Diese Stellungnahme ist in Bezug auf die Verteilung der Baumassen bindend.“
Darüber hinaus erlaubt Artikel 35 im Landesraumordnungsgesetz Erweiterungen. Der Beschluss der Landesregierung vom 10. Oktober 2023, Nr. 887 definiert die Richtlinien und Grenzen für die Erweiterung der gastgewerblichen Betriebe:
- in strukturschwachen und in touristisch entwickelten Gebieten:
- im Fall von Beherbergungsbetrieben mit weniger als 40 Betten kann zur Zahl der Betten maximal die Zahl 20 addiert werden, die Summe darf jedoch nicht größer als 50 sein,
- im Fall von Beherbergungsbetrieben mit einer Bettenanzahl von 40 bis 50 Betten kann zur Zahl der Betten die Zahl 10 addiert werden,
- im Fall von Beherbergungsbetrieben mit mehr als 50 Betten kann die den Betten entsprechende Zahl um 20 Prozent erhöht werden, wobei eine Höchstbettenanzahl von 140 Betten gilt.
- in touristisch hoch entwickelten Gebieten kann zur Anzahl der Betten die Zahl 5 addiert werden, wobei eine Höchstbettenanzahl von 140 Betten gilt.
Die Richtlinie legt fest: „Die Erweiterung von Beherbergungsbetrieben kann nach architektonischer, landschaftlicher und denkmalpflegerischer Bewertung ebenfalls durch die Errichtung von Nebengebäuden auf der in den Planunterlagen graphisch dargestellten angrenzenden Zubehörsfläche erfolgen, auch in Abweichung von der Flächenwidmung. Auf der anliegenden Fläche ist die Errichtung von Anlagen, die keine Erhöhung des umbauten Raumes und der begehbaren Nutzfläche bilden, wie Liegeflächen, nicht versiegelte Parkplätze, Spielplätze, Sportplätze und Schwimmbäder, zulässig. Als anliegende Fläche gilt eine Fläche, die durch Anwendung der Baudichte von 0,6 Kubikmeter/Quadratmeter auf die am 1. Oktober 1997 bestehende Baumasse berechnet wird. Aus Gründen der Verkehrssicherheit kann bei öffentlichen Straßen eine Unter- oder Überführung vorgeschrieben werden.“
Der „umbaute Raum“ ist der Rauminhalt des Baukörpers außerhalb des Bodens. Nicht mitgerechnet werden: offene Laubengänge, technische Aufbauten, Dachböden bis 2 Meter Höhe sowie in beschränktem Maße Garageneinfahrten.
Was insgesamt im Rahmen der Debatte besticht – und zwar im Negativen – ist die Tendenz, dass jeder nur auf sich selbst schaut. Ausnahmen hier und Ausnahmen da, für das Ganze interessiert sich niemand. Bestenfalls ist jeder darum bemüht, seine eigenen Vorteile geltend zu machen. Und andererseits wird auch niemandem nichts gegönnt. Diejenigen, die viel haben, können – so das kollektive Gefühl – noch mehr klotzen und die anderen, die zu spät kommen, bleiben auf der Strecke. Soziale Unterschiede werden dadurch naturgemäß größer.
Vielfach wäre das Gebot der Stunde: Kleiner, kleinstrukturierter, qualitativer, authentischer und kultureller. Alleine, Kultur hat das Manko, nicht willkürlich reproduzierbar zu sein. Und letztlich entscheidet der Kunde oder Gast: Wenn der Gast das exklusive Hotelressort in der unberührten Natur sucht, das „Prinzip Malediven“ in den Dolomiten, dann ist das ein Signal durch den Markt. Die Frage ist freilich, welches Angebot die Raumordnung zulassen soll und wie ermöglicht wird, dass alle die gleichen Zugangsvoraussetzungen und Chancen haben, dass Landschaft etwas Übergeordnetes bleibt.
Literatur:
[1] Hans Heiss: „Von der Landschaft zur Destination Formen touristischen Impacts in Südtirol 1990–2023“, Architekturstiftung Südtirol, August 2024 (Link)
[2] Gottfried Solderer, Zeno Abram, Helmut Alexander, Michael Gehler: „Das 20. Jahrhundert in Südtirol Band IV: Autonomie und Aufbruch (1960–1979)“, Edition Raetia, Bozen 2002
[3] Gottfried Solderer, Zeno Abram, Helmut Alexander, Michael Gehler: „Das 20. Jahrhundert in Südtirol Band V: Zwischen Europa und Provinz (1980–2000)“, Edition Raetia, Bozen 2002
[4] Südtiroler Wirtschaftszeitung, „Betten braucht das Land“ am 1. August 2008


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