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Südtirol und die 1960er-Jahre: Aktivismus, Eskalation, Autonomie

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Teil 1 der geopolitischen Auseinandersetzung mit Südtirol befasste sich mit der Annexion Südtirols durch Italien. Teil 2 befasste sich mit den geopolitischen Zusammenhängen nach 1945. Teil 3 befasst sich mit dem Südtirol-Aktivismus und dem Zweiten Autonomiestatut.

Wer sich mit Südtirol auseinandersetzt, kommt kaum an den 1960er-Jahren, an den so genannten „Bombenjahren“, vorbei. Eine prinzipielle Standortbestimmung ist notwendig, die von unreflektierten Gemeinplätzen abweicht. Noch immer stellen die so genannten „Bombenjahre“ nämlich einen Mythos in Südtirol dar. Wesentlich ist nämlich die Tatsache, dass die Zeit der Südtirol-Aktivismen die Identität Südtirols in weiten Teilen ausmacht, sowohl auf Seiten der Befürworter als auch auf Seiten der Gegner, also im Positiven sowie im Negativen.

Während im Bereich politischer Akteure auf italienischer Seite die Tendenz besteht, alle Südtiroler Separatismen der 1960er-Jahre kollektiv und pauschal als „Terrorismus“ zu brandmarken, gesteht das italienische Kulturministerium durchaus verschiedene Qualitäten ein: „Das Phänomen veränderte sich im Laufe der Zeit grundlegend: Auf die anfängliche, spontane und einheimische Phase folgte die organisierte Phase, in der der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) (1956-1961) die Hauptrolle spielte, und dann eine letzte Phase, die blutigste, neonazistischer und pangermanistischer Inspiration (1962-1967). Zu den bevorzugten Aktionsrepertoires der Südtiroler Terroristen gehörten Angriffe auf Hochspannungsmasten mittels Sprengkörpern (dies wurde als „Krieg der Masten“ bezeichnet), die in der gewalttätigsten Phase (1964-1967) in gezielte mörderische Taten übergingen“ (Link).

Faktisch ging es in Südtirol um einen Kampf um kulturelles Überleben und in weiterer Folge um die Unabhängigkeit. Der Anlass war die unzureichende Erfüllung der Autonomiebestimmungen des Pariser Vertrages. Folglich wurde Italien zu mehr autonomiepolitischen Zugeständnissen gedrängt. Die politischen Verhandlungen waren weitgehend gescheitert und wurden durch die Eskalationsspirale zunehmend wieder notwendig.

Auf der anderen Seite war der Südtiroler Freiheitskampf nicht wirklich auf gewaltvolle Konfrontation ausgelegt. Viktoria Stadelmayer, die in engem Kontakt mit den US-Amerikanern stand, hielt fest, die Südtiroler seien an den Boden gebundene Bauern, die in der Breite nicht bereit seien, einen blutigen Kampf mit zahlreichen Opfern zu führen, bei dem alles auf dem Spiel steht.

Winston Churchill, der 1946 am Karerpass urlaubte, soll auf die Selbstbestimmung der Südtiroler angesprochen worden sein und entgegnet haben: „Ich sehe aber keinen Rauch“. Politik wird durch Fakten geschaffen, weil Fakten die Normen – im Sinne der normativen Kraft des Faktischen – verändern.

Norbert Burger, der einen gewaltvollen Guerillakampf in Südtirol forcierte, unterstellte Südtirol andererseits ein schlechtes Zeugnis, weil Südtirol im Gegensatz zu Kärnten bereits im Anschluss des Ersten Weltkrieges auf Diplomatie statt auf Volksaufstand pochte. Das mag gesinnungsethisch stimmen, verantwortungsethisch ist die Sachlage hingegen durchaus komplizierter.

Wahrscheinlich war jener Weg, der mit der österreichischen Außenpolitik implizit abgestimmt war, und eine Eskalationsspirale gezielt verhindern sollte, ein sinnvoller realpolitischer Kompromiss. Eskalationsspiralen haben die Tendenz, einen destruktiven Charakter anzunehmen, bei denen es irgendwann einmal nach einer Phase des „Jetzt erst recht“ kein zurück mehr gibt. Die Rückversicherung der Südtiroler bei der österreichischen Außenpolitik war insgesamt wesentlich, um den Südtiroler Aktivismus nicht in Verruf zu bringen.

Komplexe geopolitische Randbedingungen

Die geopolitischen Rahmenbedingungen zu jener Zeit sind: Die Zivilverwaltung geht in Südtirol mit dem 1. Jänner 1946 an die italienische Regierung über. Im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern wird Südtirol nicht mehr durch die Alliierten kontrolliert.

In Anbetracht des beginnenden Kalten Krieges ist Italien andererseits jenes mitteleuropäische Land, in dem der Einfluss der kommunistischen Partei, des Partito Comunista Italiano (PCI), am stärksten ist und ein – aus alliierter Sicht – Umsturz in Richtung Kommunismus denkbar erscheint, mit vielfältigen machtpolitischen Implikationen.

Die NATO als Organisation des Nordatlantikpakts wird 1949 im Rahmen der US-amerikanischen Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion gegründet. Italien ist Gründungsmitglied der NATO. Abgesehen von der militärischen Verteidigung ist der NATO durch die politische Programmatik die politische Sicherheit und Stabilität in Europa wesentlich. Es geht bei Weitem nicht nur um Sicherheitspolitik alleine, sondern um politische Stabilität.

Andererseits war Italien nach 1945 darum bemüht, die Südtirol-Frage „innenpolitisch“ zu lösen, autonome Kompetenzen zu relativieren und Binnenzuwanderung zu forcieren.

Wenn ein Staat versucht, eine nationale Minderheit durch gezielte Maßnahmen zu überfremden oder ihre kulturelle und ethnische Identität zu verdrängen, spricht man grundsätzlich von Assimilationspolitik oder ethnischer Marginalisierung:

  • Im Rahmen einer Assimilationspolitik versucht ein Staat, eine Minderheit zur Anpassung an die Kultur, Sprache oder Identität der Mehrheitsgesellschaft zu drängen.
  • Bei einer ethnischen Marginalisierung und demographischer Überfremdung handelt es sich um Maßnahmen, die bewusst die demografische Zusammensetzung verändern sollen, etwa durch Ansiedlung von Mehrheitsangehörigen in Gebieten nationaler Minderheiten.

In beiden Fällen wird der Schutz autochthoner Völker, den das Völkerrecht etabliert, in Frage gestellt.

In Südtirol sammeln sich im Bereich der Aktivismen in den 1960er-Jahren als Folge der italienischen Südtirolpolitik verschiedene Gruppierungen. Erstens Südtiroler Bauern, Kaufleute oder Handwerker, also die authochtone Südtiroler Bevölkerung. Zweitens, Teile des österreichischen christlich-sozialen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, die enge Kontakte zu den US-Amerikanern und zum politischen Führung in Österreich pflegen. Drittens, jenes Lager, das einen bewaffneten Volksaufstand zu führen versucht und insbesondere aus nationalen Kreisen in Österreich besteht. Diese Strömungen lassen sich freilich nicht immer ganz voneinander trennen. Insbesondere die erste Gruppierung war auf Logistik, Kontakte und Einfluss der anderen Strömungen angewiesen.

Auf der anderen Seite steht die offizielle österreichische Außenpolitik. „Wenn ihr was macht, dann macht wenigstens was Ordentliches“. Mit diesen Worten soll der damalige Außenminister Bruno Kreisky eine Delegation des Befreiungs-Ausschusses Südtirol (BAS) nach einem Gespräch Anfang der 1960er Jahre verabschiedet haben.

Nun kann sich, bezogen aufs Heute, jeder die eigenen Gewissheiten und Begriffe zurechtzimmern. Indem sich jeder für sich eine subjektive Welt einrichtet und auf das eigene Schneckenhaus zurückzieht, wird allerdings kaum jene Allgemeingültigkeit erreicht, die für politische Fortschritte erforderlich ist.

In kriegerischen Konflikten ist allgemein die Tendenz groß, dass verdeckte Manöver gefahren werden, die undurchsichtig und im Verborgenen bleiben. Insbesondere angesichts geopolitischer Fronten in Europa, die Südtirol damals durchzogen.

Zahlreiche Staaten, wie etwa auch Italien, bauen ihren Gründungsmythos auf kriegerische Auseinandersetzungen und auf politische Irredentismen auf. Die Frage ist immer, ob es einen legitimen und einen illegitimen Irredentismus gibt, wer darüber befindet, oder ob es sogar einen „Tag X“ gibt, der – sagen wir, im Jahr 1945 festgesetzt ist -, ab welchem Irredentismen, zumindest in Mitteleuropa, plötzlich illegitim werden, weil die politische „Weltenbildung“ vermeintlich abgeschlossen war. Grundsätzlich kann sich die Legitimität natürlich nicht nach dem Recht des Stärkeren richten, wenngleich die Tendenz dahingehend groß ist.

Partisan, Freiheitskämpfer oder Terrorist?

Carl Schmitt legt mit der „Theorie des Partisanen“ eine interesannte Theorie zur Rechtmäßigkeit des Freiheitskampfes vor. Den Partisanen kennzeichnen bei Carl Schmitt vier Eigenschaften: seine Irregularität, sein intensives politisches Engagement, seine gesteigerte Mobilität und seinen tellurischen (erdverbundenen) Charakter. Insbesondere der tellurische und in diesem Sinne defensive Charakter ist für das Wesen des Partisanen wesentlich und gibt diesem, zusammen mit einem defensiven Charakter, Legitimität.

„Tellurisch“ bedeutet bodenständig oder bodengebunden. Carl Schmitts tellurische Charakterisierung findet bei Erich Vad [7] und Herfried Münkler [8] Zustimmung. Zu unterscheiden ist diese Identifikation des Partisanen von jenen Auslegungen des Partisanen, die anderweitigen politischen Interessen entsprechen.

In diesem Sinne ist erwähnenswert, dass Italien natürlich stets bedacht war, dem Südtiroler Aktivismus den „tellurischen“ Charakter abzusprechen, indem die gesamte Bewegung als angeblich aus dem deutschen Ausland gesteuert dargestellt wurde. Italien war und ist sich der Schmittschen Doktrin – im Negativen – stets bewusst, weil es die Sprache ist, die die reale Macht prägt. Anders gesagt: Italien hat Carl Schmitt gelesen, Südtirol wohl zu wenig. Es ist also in der Interpretation der Ereignisse bedeutend, auf den vorwiegend tellurischen Charakter des Hauptteils des Südtirol-Aktivismus hinzuweisen: Vorwiegend war es ein Widerstand in und aus Südtirol, der in der Bevölkerung Rückhalt fand.

Die Uneinsichtigkeit Italiens in der Südtirol-Frage – Südtirol wurde als erobertes Gebiet und als „inneritalienische Angelegenheit“ wahrgenommen –, lief auf folgende Punkte hinaus: Verhinderung der Selbstverwaltung, Überstimmung der Südtiroler in der Region, Benachteiligung der Südtiroler im öffentlichen Dienst, Fremdherrschaft an den Schalthebeln der Exekutive, Überfremdung durch gezielte Zuwanderungspolitik.

Der Pariser Vertrag wurde durch Italien faktisch nicht umgesetzt. Daraus ergeben sich die politischen Problematiken für Südtirol. Freilich, die Südtiroler selbst wollten gar keine Autonomie, sondern die Selbstbestimmung. Grundsätzlich war es problematisch, einerseits auf die Einhaltung der Autonomie zu drängen und andererseits auf die Selbstbestimmung zu pochen. Dadurch wurden zwei unterschiedliche Strategien in einer Art und Weise zu einer einzigen Verhandlungsposition zusammengefasst, sodass sich verhandlungstechnisch wohl zwangsläufig die weniger weitreichende durchsetzen sollte.

Ab 1956 bestand in Südtirol der Glaube an die friedliche Demonstration. Die politischen Interventionen Österreichs und Südtirols wurden durch Italien bewusst überhört. Man spielte auf Zeit, konnte abwarten und Fakten schaffen. Gezielte Nadelstiche in Südtirol durch zahlreiche, verteilte Anschläge auf Sachobjekte waren methodisch durch den Partisanenkampf beeinflusst, strategisch allerdings darauf ausgerichtet, eine Eskalation zu verhindern, indem es nämlich bei kleineren Anschlägen auf Objekte verblieb.

Der österreichische Verleger Fritz Molden, der enge Beziehungen in die Vereinigten Staaten hatte, erläuterte, dass es rückblickend darum ging, einen vertretbaren Weg zu gehen, der einen demokratischen Staat wie Italien zwar herausfordert, aber auf der anderen Seite keine exzessiven Gegenmaßnahmen weckt. „Der Partisan braucht die Weltöffentlichkeit“ definierte Fritz Molden und verlangte, Sachobjekte zu sprengen, aber Menschen zu schützen, weil der Partisan von der Sympathie der Weltöffentlichkeit abhängig sei, was insgesamt zu unterstreichen ist.

In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 wurden in Südtirol rund 37 Strommasten gesprengt. Italien konnte die Südtirol-Frage international nicht zur rein innenpolitischen Angelegenheit erklären. Wenige Tage später wurden rund 150 Aktivisten verhaftet. In der Folge kam es zu brutalen Folterungen. Dass die Südtiroler Volkspartei sich von den Anschlägen distanzierte, um die politischen Verhandlungen nicht zu gefährden, liegt auf der Hand. Der Journalist Claus Gatterer erklärt, dass mit Blick auf die Folterungen, deren „Ergebnisse“ ohnehin juristisch keine Beweiskraft haben dürften, längst der italienische Staat zum Angeklagten der Öffentlichkeit wurde.

Blickt man auf die derzeitige Literatur, wird klar, dass Südtirol zu jener Zeit längst im Fokus der internationalen Geheimdiensttätigkeiten stand, die im NATO-Umfeld damit beschäftigt waren, eine Stay-behind-Organisation aufzubauen, die im Falle einer kommunistischen Machtübernahme in Europa gezielte Sabotageakte auffahren würden. Die Verstrickungen der 1960er-Jahre sind auch und vor allem unter diesem geopolitischen Blickwinkel zu betrachten, wodurch sich allerhand Ereignisse ergeben, die wohl auch längerfristig nicht durchsichtig werden.

Politische Verhandlungen

Der italienische Ministerrat beschließt im Jänner 1961, also vor der „Feuernacht“, die Neunzehnerkommission. Ihr wird die Aufgabe übertragen, die Südtirolfrage unter allen Gesichtspunkten zu studieren und der Regierung Vorschläge zu unterbreiten. Die Kommission setzt sich aus sieben Südtirolern, einem Ladiner und elf Italienern zusammen.

Historisch betrachtet hatte die 19er-Komission aus italienischer Sicht den Zweck, die Internationalisierung der Südtirol-Frage zu verhindern und auf dem Standpunkt der „inneritalienischen“ Angelegenheit zu pochen. Eingesetzt wird die Kommission im September 1961, also nach den Anschlägen. Insgesamt verliefen die Arbeiten der Neunzehner-Kommission konstrukiver als erwartet, sodass politische Verhandlungsfortschritte erzielt werden konnten. Josef Fontana wirft 1992 die Frage auf, die wohl rhetorisch ist: „Ohne Anschläge keine Neunzehner-Kommission, ohne Neunzehner-Kommission kein Paket?“. Damit unterstreicht Fontana die Haltung, dass die Anschläge die Verhandlungen im Rahmen der Neunzehnerkommission beförderten.

Österreich beschließt im Juli 1961, Südtirol erneut vor die UNO zu bringen. Österreichs Antrag wird im September 1961 auf die Tagesordnung der UNO-Vollversammlung gesetzt. Für Österreich war eine Anrufung der UNO vielversprechender als ein Rekurs am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der ein äußerst vages Pariser Abkommen auch zu Ungunsten Österreichs auslegen konnte.

Insgesamt stellte sich ein Wettkampf zwischen Eskalation einerseits und politischer Verhandlung andererseits ein, mit dem Risiko, dass die Eskalation die Verhandlungen negativ beeinflussen könnte. Durch die „Feuernacht“ und die Verbindungen nach Österreich stand Österreich insgesamt deutlicher in der Defensive, sodass Autonomie statt Selbstbestimmung ein defensives Manöver – und ein Strategiewechsel – war.

Dass in der Folge, ein Monat nach der „Feuernacht“, Anschläge auf Verkehrsverbindungen und Verkehrsinfrastruktur in Oberitalien verübt wurden, die das Eisenbahnnetz lahmzulegen drohten, ganz abgesehen von Risiken für Menschen, bewegte Italien zu deutlich schärferem Vorgehen und zur Ausrufung des Ausnahmezustandes. Geplante Anschläge auf Bahnhöfe in italienischen Städten, die wohlgemerkt nicht mehr durch Südtiroler Aktivisten durchgeführt wurden, bestärkten Italien im Vorgehen gegen die so genannte „Bomben“-Politik. Helmut Wintersberger erzählt recht eindrucksvoll und auch tragisch, wie durch Gruppierungen, die von außerhalb Südtirols in den Konflikt einstiegen, Brandbomben auf zivile Strukturen in Kauf genommen wurden. Die sich gegenseitig aufschaukelnde Eskalationsspirale mit drohendem Kontrollverlust war im vollen Gange, steht aber in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu den Akteuren der „Feuernacht“. Für Italien handelte es sich um die Steilvorlage, die Südtirol-Aktivisten als von außen gesteuerte Aktivitäten und Extremismen zu brandmarken.

Italien versuchte ab Ende 1961, Österreich vor die UNO zu zerren und als eigentlichen Drahtzieher der Anschläge zu brandmarken, die – gemäß italienischer Beteuerung – von außen gesteuert seien. Beteiligt seien nicht nur „Extremisten“, sondern die Republik Österreich und – noch schlimmer – die Bundesrepublik Deutschland, so das italienische Narrativ.

Die UNO-Vollversammlung erneuerte im November 1961 die Resolution, die ein Jahr zuvor bereits beschlossen wurde. Die Südtirolfrage sollte politisch für Österreich zunehmend in den Hintergrund geraten. Österreich strebte zur Konsolidierung der Handelsbeziehungen eine EWG-Assoziierung an (Bindung Österreichs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ohne eine Vollmitgliedschaft). Italien wusste das angestrebte EWG-Assoziierungsabkommen Österreichs zum eigenen Gunsten zu nutzen und Österreich verhandlungstechnisch zu Kompromissen in der Angelegenheit Südtirol zu drängen.

Die Anschläge – und die Gegenmaßnahmen – verschärften sich fortlaufend. Immer dann, wenn sich politische Verhandlungserfolge abzeichneten, machten – angeblich – neue Anschläge diese zunichte. Immer wieder wird von „False-Flag“-Operationen ausgegangen, die teilweise aktenkundlich belegt worden sind. Insgesamt dürfte Südtirol längst Spielwiese der internationalen Geheimdienste geworden sein.

Ohne eine Wertung vorzunehmen, zeichnet sich aber auch eine zunehmende Kluft ab: Während von außerhalb Südtirols kommend, ohne Berücksichtigung der Kollateralschäden, auf ein striktes Festhalten an Selbstbestimmung und Sezession gepocht wird, bei gleichzeitigem Einsatz extremer Mittel, zeigen sich die Südtiroler, die sich einem kulturellen Überlebenskampf ausgesetzt sahen, in weiten Teilen zu realpolitischen Teillösungen bereit.

Josef Fontana legt als Beteiligter und Historiker dar, dass Sepp Kerschbaumer, der Südtiroler Kopf der „BAS“, seine Strategie im Rahmen der Mailänder Prozesse änderte und von Selbstbestimmung zur Autonomie umschwenkte, um – nach allen Opfern – zumindest ein erreichbares Ziel nach Hause zu holen.

1963 wird in Italien erstmals eine Mitte-Links-Regierung gebildet. Der Strafrechtler Aldo Moro von der Democrazia Cristiana wurde Ministerpräsident, der Sozialist Giuseppe Saragat Außenminister. Auf der anderen Seite wurde Österreichs Außenpolitik von 1959 bis 1966 durch den Sozialdemokraten Bruno Kreisky, der von 1970 bis 1983 Bundeskanzler wurde, geleitet. Südtirol wurde folglich zunehmend zu einer Fragestellung, die unter sozialdemokratischen „Freunden“ geklärt werden sollte.

Im April 1964 beendet die Neunzehnerkommission ihre Arbeiten. Am 25. Mai 1964 beschließen die Außenminister Kreisky und Saragat in Genf die Einsetzung einer italienisch-österreichischen Expertenkommission, die die Ergebnisse der Neunzehnerkommission auf internationaler Ebene behandelt.

Kreisky war in der Folge bemüht, mit Saragat, der selbst im Exil in Wien gelebt hatte, die Südtirol-Frage politisch zu lösen. Zu einer Lösung kam es effektiv nicht, die Südtiroler lehnten die erzielten Kompromisse ab. Diese sollten in weiten Teilen erst als „Paket“ Wirklichkeit werden, in dem sich die Arbeit der Neunzehnerkommission niederschlug.

Landeshauptmann Silvius Magnago und Ministerpräsident Aldo Moro verhandeln in den Folgejahren weiter. Das Verhandlungsergebnis beinhaltet 137 Maßnahmen zum Schutz der Südtiroler.

Die Außenminister Pietro Nenni und Kurt Waldheim einigten sich anlässlich der Ministerkomitee-Sitzung des Europarates in Straßburg im Mai 1969 auf einen Operationskalender. Schließlich wurde am 22. November 1969 im Meraner Kurhaus das „Paket“ mit 52,9 Prozent angenommen, das im Zweiten Autonomiestatut mündete. Das Zweite Autonomiestatut tritt am 20. Jänner 1972 in Kraft.

Die Aktivismen der 1960er-Jahre aus der Retrospektive

In Fortsetzung der so genannten „Feuernacht“ setzen allerhand weitere Kampfhandlungen und Anschlagsserien an, die insgesamt sehr undurchsichtig bleiben. Zunehmend sind Elemente im Spiel, die von außerhalb Südtirols in das Geschehen eingreifen und dabei wenig zimperlich sind.

Dem Militärhistoriker Hubert Speckner gebührt der Verdienst, sich in einem umfassenden Quellenstudium der sicherheitsdienstlichen Akten in Südtirol, objektiv mit der Südtirol-Thematik auseinander gesetzt zu haben. Speckner forschte unabhängig, glich seine Quellen aber letztlich mit jenen seines Studienkollegen Christoph Franceschini auf Übereinstimmung ab. Dabei unterscheidet Speckner zwischen „Anschlägen“, also Aktivitäten mit eindeutiger Urheberschaft, und „Vorfällen“ in Bezug auf Akte undurchsichtiger Herkunft.

Alleine diese Unterscheidung untermauert die höchst undurchsichtige Urheberschaft zahlreicher Aktivitäten in Südtirol.

Speckner urteilt, dass es gerade der enorme Aufwand von italienischer Seite, mit mindestens 15.000 Sicherheitskräften in Südtirol war, der die italienische Seite zur Erreichung einer politischen Lösung bewegte. Weil die direkten „Erfolge“ der militärischen Aktionen nicht eintraten, blieb die politische Verhandlung alternativlos. Auf der anderen Seite war es laut Speckner der Einsatz des österreichischen Bundesheeres an der Grenze, der Aktivitäten auf Nordtiroler Seite einbremste und folglich die zunehmende Eskalation verhinderte.

Insgesamt verwirft Speckner die Ansicht mancher Historiker, die Anschläge hätten das Südtirol-Thema politisch verzögert oder weiterreichende Lösungen verhindert, wie etwa von Rolf Steininger vorgetragen. Innenpolitisch sei eine Wirkung sowohl in Italien als auch Österreich evident: „Die Anschläge an sich dürften tatsächlich nur zu einer verstärkten Abwehrhaltung der Italiener geführt haben, die Erfolglosigkeit der Gegenmaßnahmen und vor allem wohl die Eskalation auf italienischer Seite führte letztlich zum bekannten Ergebnis, zum „Südtirolpaket““ [2].

Aus einem Bericht von Senator Libero Gualtieri, der einer parlamentarischen Kommission vorsitzt, die ab 1988 tagte, geht hervor: „Es zeichnet sich das Bild einer Beteiligung staatlicher Strukturen ab, nicht um den Terrorismus der unabhängigen Sektionen in Südtirol zu bekämpfen, zu unterdrücken und zu stoppen, sondern um ihn zu schüren und zu verschärfen, bis hin zu echtem Gegenterrorismus“ (Link).

Aus der Retrospektive ist unbestritten, dass die Anschläge der 1960er-Jahre zur derzeitigen Autonomie wesentlich beigetragen haben. Der Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago stellt in der SVP-Schrift „30 Jahre Pariser Vertrag fest: „Die Anschläge von damals und die darauffolgenden Prozesse gehören, genauso wie vieles andere, zur Nachkriegsgeschichte Südtirols und stellen einen bedeutenden Beitrag zu dieser Geschichte und zur Erreichung einer besseren Autonomie für Südtirol dar.“

Im Jänner 2025 urteilt Landeshauptmann Arno Kompatscher in der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“: „Sepp Kerschbaumer verdient sich den Namen Freiheitskämpfer vollauf. Er hat sich für die Rechte der Südtiroler und Südtirolerinnen eingesetzt. Er war immer darauf bedacht, keine Menschen zu verletzen. Es ging um ein Signal und um einen Aufschrei in einer Zeit der großen Unterdrückung“.

Die politische Rehabilitation der Südtiroler Freiheitskämpfer ist folglich vollzogen.

Literatur:

[1] Elisabeth Baumgartner (Hrsg.): „Feuernacht. Südtirols Bombenjahre: ein zeitgeschichtliches Lesebuch, Edition Raetia, Bozen 1992

[2] Hubert Speckner: „Von der „Feuernacht“ zur „Porzescharte“. Das „Südtirolproblem“ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“, Gra&Wis Verlag, Wien 2016

[3] Christoph Franceschini: Salto.bz, Podcast-Reihe zu den Bombenjahren

[4] Christoph Franceschini: „Geheimdienste, Agenten, Spione: Südtirol im Fadenkreuz fremder Mächte“ (Band 1), Edition Raetia, Bozen 2020

[5] Christoph Franceschini: „Segretissimo – Streng geheim! Südtirol im Fadenkreuz fremder Mächte“ (Band 2), Edition Raetia, Bozen 2021

[6] Carl Schmitt: „Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen“, Duncker & Humblot, Berlin 1963

[7] Erich Vad: „Strategie und Sicherheitspolitik: Perspektiven im Werk von Carl Schmitt“, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996

[8] Herfried Münkler: „Der Partisan: Theorie, Strategie, Gestalt“, Westdeutscher Verlag, Opladen 1990

2 Antworten zu „Südtirol und die 1960er-Jahre: Aktivismus, Eskalation, Autonomie”.

  1. Avatar von Eine Raumordnung für Südtirol: Alfons Benedikter – Demanega

    […] und von 1972 bis 1989 Mitglied der wichtigsten Kommissionen zur Umsetzung der Südtirol-Autonomie (Neunzehnerkommission, Sechserkommission, Zwölferkommission), sodass dieser die Ausarbeitung der […]

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  2. Avatar von Weshalb die Südtirol-Autonomie wiederhergestellt und ausgebaut werden muss – Demanega

    […] das Erste Autonomiestatut, stellt die völkerrechtliche Grundlage der Südtirol-Autonomie dar. Das Zweite Autonomiestatut 1972 sowie die Streitbeilegung 1992 stellen die letzten substanziellen Weiterentwicklungen der […]

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