Gesetze haben grundsätzlich – insbesondere mit Blick auf die italienische Gesetzeslage – die Tendenz, entweder zu wenig zu reglementieren, sodass ein Mangel an Reglementierung beanstandet wird, oder zu viel zu reglementieren, sodass die überbordende Komplexität und die Bürokratisierung kritisiert werden. Es ist grundsätzlich effektiv schwierig, eine ausgleichende Mitte zwischen dem so genannten „gesunden Hausverstand“, den alle eigentlich anstreben, der aber abstrakt bleibt, und einer Orientierung am juristischen Ernstfall zu finden, bei dem es auf glasklare Festlegungen auskommt.
Mit Blick auf den Bausektor ist insbesondere mit Bezug auf öffentliche Ausschreibungen eine große Komplexität gegeben, die aber auch aus den vielfältigen potenziellen Problemfällen resultiert. Bei öffentlichen Bauvorhaben sind große Mengen an Steuergeld im Spiel. Die sachgemäße Verwendung öffentlicher Mittel ist eine Notwendigkeit unserer Zeit, hinzu kommen das Wettbewerbsprinzip auf europäischer Ebene, die Gleichbehandlung aller Wirtschaftsteilnehmer, die konsequente Transparenz und die Dokumentierbarkeit aller Entscheidungen und Handlungen, sodass sich notwendigerweise eine Komplexität und Kompliziertheit ergeben.
Über allen Entscheidungen und Handlungen schweben in Bezug auf öffentliche Ausschreibungen der Rechnungshof sowie allfällige andere Gerichte auf nationaler und europäischer, sodass es für die Verfahrensverantwortlichen folgenschwer sein kann, eine Unterschrift zu setzen. Die italienische Literatur spricht demgemäß von der „Angst der Unterschrift“. Dadurch wird die Gesetzgebung im Bereich der Ausschreibungen, die Ausschreibungen ermöglichen und nicht verhindern soll, ad absurdum geführt.
Europäisches Vergaberecht
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bildet die Grundlage für eine europäische Integration im Sinne einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik und eines gemeinsamen Marktes und wurde durch die Römischen Verträge von 1957 konstituiert. Mit Gründung der Europäischen Union 1993 (Vertrag von Maastricht) ergibt sich auf Grundlage der EGW die heutige EU, welche die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes intensiviert und in diesem Sinne 1999 eine Wirtschafts- und Währungsunion schafft.
Zentral für die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes ist die Etablierung eines Vergaberechts. Auf der technischen Seite ist zur Durchsetzung des europäischen Binnenmarktes der Abbau von technischen Handelshemmnissen wesentlich, woraus sich die Aktivitäten des Europäischen Komitees für Normung (CEN) ergeben.
Die modernen europäischen Vergaberegeln finden in den Richtlinien von 2004 ihren Niederschlag. Die Richtlinien 2004/17/EG (Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste) und 2004/18/EG (Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge) streben die Vereinfachung und Harmonisierung des europäischen Vergaberechts an. In Italien findet die Richtlinie 2004/18/EG im Decreto Legislativo (D.Lgs.) 163/2006 (Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture) ihre Anwendung.
Mit Blick auf das europäische Vergaberecht ergeben sich die folgenden, wesentlichen, Veränderungen:
- Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge
- Richtlinie 2009/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit
- Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste
- Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe
- Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe
Diese Richtlinien finden auf italienischer Ebene im „Codice die contratti pubblici“ D.Lgs. 50/2016 Anwendung.
Das neue italienische Vergabegesetz
Die Anwendung der europäischen Vergabepraxis war mit dem Vergabekodes 2016/50 unzureichend, sodass der neue Ausschreibungskodex („Codice die contratti pubblici“) D.Lgs. 36/2023 versucht ist, zahlreiche Kritikpunkte zu lösen. Vorausgegangen waren dem neuen Vergabekodex von 2023 zahlreiche Probleme in Bezug auf den Stillstand bei öffentlichen Bauprojekten. Infolgedessen wurden bereits mit dem Dekret „Sblocca cantieri“ 32/2019 wesentliche Abänderungen vollzogen.
Das sogenannte „Prinzip des Ergebnisses“ (principio del risultato) ist ein zentrales Element im neuen italienischen Vergabekodex (Gesetzesdekret Nr. 36/2023) und stellt eine wesentliche Neuerung gegenüber der bisherigen Rechtslage dar. Es zielt darauf ab, den Schwerpunkt des Vergabeverfahrens auf die tatsächliche Erreichung der gewünschten Ergebnisse und den öffentlichen Nutzen zu legen.
In der Ausschreibungsphase müssen öffentliche Auftraggeber die zu erreichenden Ergebnisse klar definieren. Dies betrifft sowohl technische als auch wirtschaftliche Ziele. Die beauftragten Unternehmen tragen die Verantwortung für das tatsächliche Erreichen der vereinbarten Ergebnisse. Dies wird durch Vertragsklauseln sichergestellt, die Sanktionen oder Bonusregelungen für das Nichterreichen bzw. Übertreffen der Ziele vorsehen.
Das Vertrauensprinzip verpflichtet die öffentliche Verwaltung dazu, den Grundsatz des guten Glaubens und des gegenseitigen Vertrauens zu wahren. Es bedeutet, dass öffentliche Auftraggeber bei der Durchführung von Vergabeverfahren und der Abwicklung von Aufträgen davon ausgehen sollen, dass die Unternehmen grundsätzlich rechtskonform, verantwortungsbewusst und im öffentlichen Interesse handeln.
Das Vertrauensprinzip im neuen Vergaberecht entlastet den Verfahrensverantwortlichen (RUP) insoweit, als er bei ordnungsgemäßer Prüfung grundsätzlich davon ausgehen darf, dass die Auftragnehmer im guten Glauben und rechtskonform handeln. Dennoch bleibt der RUP verpflichtet, im Rahmen seiner Überwachungspflichten bei erkennbaren Anzeichen von Fehlverhalten einzugreifen.
Im italienischen Strafrecht ist von „dolo“ (Vorsatz) und “colpa grave” (Grobe Fahrlässigkeit) die Rede. Fahrlässigkeit besteht im Wesentlichen in der Verletzung eines allgemeinen Sorgfaltskriteriums. Unter grober Fahrlässigkeit liegt die Nichterfüllung oder eine besonders schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Sorgfaltspflicht, die geeignet ist, einen erheblichen Schaden zu verursachen.
Schwere Fahrlässigkeit wird definiert als „die Verletzung gesetzlicher Vorschriften und behördlicher Selbstbeschränkungen sowie die offensichtliche Verletzung der Regeln der Vorsicht, Sachkenntnis und Sorgfalt sowie das Unterlassen der bei einer Verwaltungstätigkeit üblicherweise erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen, Kontrollen und vorbeugenden Informationen“.
Eine Verletzung oder Unterlassung, die unter Bezugnahme auf die geltenden rechtswissenschaftlichen Richtlinien oder die Auffassungen der zuständigen Behörden festgestellt wird, stellt gemäß neuem Vergaberecht keine grobe Fahrlässigkeit mehr dar. Dadurch wird Planungssicherheit gewährleistet.
Wichtig sind im neuen Vergabekodex Präzisierungen zur Öffentlich-privaten Partnerschaft (PPP).
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge können öffentliche Auftraggeber bei der Auswahl des Auftragnehmers grundsätzlich folgende Verfahren anwenden:
- offenes Verfahren
- nichtoffenes Verfahren
- Wettbewerbsverfahren mit Verhandlung
- Wettbewerbsdialog
- Innovationspartnerschaft (PPP).
Das so genannte „project financing“ ist in zwei Varianten möglich: Projektfinanzierung aus Privatinitiative sowie Projektfinanzierung durch öffentliche Initiative.
Für die Projektfinanzierung aus Privatinitiative sieht das Gesetz Verfahren vor, die Wettbewerb und Transparenz garantieren. In der ersten Phase legt die bewilligende Stelle eine Frist für die Vorlage von Alternativvorschlägen fest, wählt diejenigen von öffentlichem Interesse aus und unterzieht sie einer Machbarkeitsprüfung. Anschließend beginnt die Ausschreibung auf der Grundlage des technisch-wirtschaftlichen Machbarkeitsprojekts mit der Anerkennung des Vorkaufsrechts an jenen Betreiber, der den Gewinnervorschlag vorgelegt hat.
Im Falle einer öffentlichen Initiative hingegen erstellt die bewilligende Stelle, auch durch Interessenbekundungen, das Machbarkeitsprojekt und verwendet es als Grundlage für die Ausschreibung, mit der der Betreiber ausgewählt werden soll, der das Projekt fertigstellt.
Literatur:
[1] Arturo Cancrini e Massimo Nunziata: “La gara del nuovo Codice dei contratti pubblici – D.Lgs. 36/2023 e relativi allegati”, EPC Editore, Roma 2023
[2] Arturo Cancrini e Massimo Nunziata: “La fase di esecuzione nel nuovo Codice dei contratti pubblici – D.Lgs. 36/2023 e relativi allegati”, EPC Editore, Roma 2023


Hinterlasse einen Kommentar