Während man im Ingenieurwesen üblicherweise vom Modell zur Berechnung zur Errichtung übergeht, ist die Reihenfolge im forensischen Ingenieurwesen exakt umgekehrt und invers: Das Bauwerk ist – mitunter mit Mängeln – real existierend und es werden rückwirkend die Parameter beurteilt, die ein bestimmtes Verhalten bedingen.
Dadurch, dass das Bauwerk bereits besteht, ist die Komplexität in der Erforschung der Parameter, die das Verhalten prägen, nicht geringer. Während, ausgehend von einem Modell, beim direkten Weg eine Berechnung stattfindet, muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Vereinfachungen und Idealisierungen im Rahmen der Modellbildung effektiv nicht in der Praxis auftreten und die erwarteten Versagensarten und Schadensbilder nicht eintreten. Ausgehend vom realen Bauwerk ist beim inversen Weg die Erforschung der effektiven Parameter, die für ein Versagen entscheidend sind oder entscheidend waren, nicht weniger kompliziert.
Das forensisch Bauingenieurwesen befasst sich mit der Untersuchung von Bauwerksversagen und -schäden, um die Ursachen zu identifizieren und aktiv Lösungen zu entwickeln. Infolgedessen wird Wissen aus den Bereichen Bauingenieurwesen, Materialwissenschaften und Recht kombiniert, woraus sich die immense fachliche Komplexität ergibt, die interdisziplinär ist.
Wesentliche Aspekte sind:
- Schadensanalyse und -untersuchung:
- Untersuchung von Gebäuden, Brücken und anderen Bauwerken, die Mängel oder Schäden aufweisen oder versagt haben.
- Durchführung von Inspektionen vor Ort, um sichtbare und versteckte Schäden zu dokumentieren.
- Nutzung von zerstörungsfreien Prüfmethoden (wie Ultraschall, Röntgen, Thermografie) zur Ermittlung von Materialfehlern oder strukturellen Schwächen.
- Ursachenforschung:
- Analyse der Baupläne, Bauausführung und verwendeten Materialien, um mögliche Fehlerquellen zu identifizieren.
- Untersuchung der Umgebungsbedingungen (wie Wetter, Bodeneigenschaften), die zu Schäden beigetragen haben könnten.
- Bewertung der Bauweise und der Einhaltung von Bauvorschriften und Standards.
- Gutachten und Berichterstellung:
- Erstellung detaillierter Berichte und Gutachten, die die Ursachen der Schäden beschreiben und Vorschläge für Abhilfemaßnahmen machen.
- Präsentation der Ergebnisse vor Gericht oder in Schiedsverfahren, wenn Streitigkeiten über Bauwerksversagen geklärt werden müssen.
- Beratung von Privaten im Bereich der Bauausführung, um Probleme und Mängel präventiv zu verhindern und um den Bauprozess zu beschleunigen.
- Sanierung und Prävention:
- Entwicklung von Ertüchtigungs– und Sanierungsplänen für beschädigte Bauwerke.
- Beratung von Bauunternehmen, Architekten und Ingenieuren zur Vermeidung zukünftiger Schäden durch Verbesserungen in Design, Materialwahl und Bauausführung.
- Rechtliche Aspekte und Versicherungsaspekte:
- Zusammenarbeit mit Anwälten und Versicherungen bei der Bewertung von Schadensfällen und der Bestimmung von Haftungsfragen.
- Unterstützung bei der Klärung von Streitigkeiten über Bauqualität und Verantwortlichkeiten.
Durch diese Aktivitäten trägt das forensische Bauingenieurwesen dazu bei, die Sicherheit und Zuverlässigkeit von Bauwerken zu gewährleisten und Lehren aus vergangenen Fehlern zu ziehen, um zukünftige Bauprojekte deutlich zu verbessern.
Literatur:
[1] Nicola Augenti: „Ingegneria forense – Indagini su crolli e grandi dissesti“, Hoepli, Milano 2021


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