Der klassische Realismus, der im Wesentlichen auf Hans Joachim Morgenthau zurück geht, basiert auf einem pessimistischen Menschenbild. Er geht davon aus, dass Menschen von Natur aus egoistisch und machtgierig sind. Staaten handelnals kollektive Akteure entsprechend egoistisch und streben nach Macht, um ihr Überleben zu sichern.
Realisten sehen die internationale Politik als anarchisch an, was bedeutet, dass es keine übergeordnete Autorität gibt, die die Staaten reguliert. Diese Anarchie führt dazu, dass Staaten in einem ständigen Machtkampf verwickelt sind.
Staaten streben nach einer Machtbalance, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Bündnisse und Koalitionen werden geschmiedet, um Machtgleichgewichte zu schaffen oder zu erhalten.
Demgegenüber verfügt der Neoliberalismus über ein idealistisches Moment, das man allerdings auch als „naiv“ bezeichnen könnte: Staaten würden durch Kooperation und durch internationale Institutionen und Abkommen sukzessive Frieden und Stabilität anstreben. Vielfach sind derartige Abkommen allerdings nicht aus idealistischen Antrieben bedingt, sondern aus machtpolitischen Opportunitäten, wodurch der Realismus zum Zug kommt.
Der Neorealismus, insbesondere durch Kenneth Waltz, betont ebenso die strukturelle Anarchie des internationalen Systems. Er argumentiert, dass das Verhalten von Staaten durch die Struktur des internationalen Systems bestimmt wird und nicht durch menschliche Natur oder die Absichten einzelner Staatsführer.
Das internationale System zwingt Staaten dazu, sich sicherheitsorientiert zu verhalten und einen Zustand des Machtgleichgewichts anzustreben (balance of power).
Neorealisten konzentrieren sich auf die Verteilung der Macht im internationalen System (Polarisierung). Sie unterscheiden zwischen unipolaren, bipolaren und multipolaren Systemen und analysieren, wie diese Strukturen das Verhalten der Staaten beeinflussen.
Im Zentrum der neorealistischen Analyse steht das Sicherheitsdilemma. Staaten müssen ständig ihre Sicherheitslage bewerten und oft Rüstungsmaßnahmen ergreifen, was wiederum andere Staaten zur Aufrüstung veranlasst, wodurch ein Kreislauf der Unsicherheit entsteht.
Neorealisten betonen die Bedeutung der relativen Macht gegenüber absoluter Macht. Staaten sind nicht nur daran interessiert, ihre eigene Macht zu maximieren, sondern auch daran, ihre Macht im Vergleich zu anderen Staaten zu erhöhen.
Die Theorie ist die eine Sache, die geopolitische Praxis die andere.
Herfried Münkler skizziert in „Welt in Aufruhr“ Theorien der Großraumordnung. Mit Blick auf die verschiedenen Pole in der internationalen Politik geht Münkler in einer zunehmend multipolaren Welt von fünf Polen aus, womit jene Mächte gemeint sind, die weltpolitisch derzeit in der ersten Reihe stehen. Alle diese Mächte riskieren grundsätzlich aufgrund innenpolitischer Divergenzen jein Abrutschen in die zweite Reihe.
- Zur ersten Reihe gehören die USA, China, Russland, Indien und die Europäische Union. Für alle diese Mächte ist der Anspruch, der weltpolitisch ersten Reihe anzugehören, innenpolitisch wichtig, wobei die Europäische Union aufgrund der Vielfältigkeit der sie bildenden Staaten, die ein Eigenleben führen, eine Ausnahme darstellt.
- Die zweite Reihe besteht aus Mächten, die sich den Mächten der ersten Reihe nicht anschließen wollen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen jenen Mächten, die Mächte der ersten Reihe herausfordern und solchen Mächten, die die zweite Reihe bevorzugen, folglich auch keine weltpolitische Verantwortung einnehmen müssen. Für diese Mächte besteht die Option, als lockerer Verbündeter zu agieren. Den politischen Mächten der ersten Reihe kommt es dabei durchaus auf Unterstützung von Mächten der zweiten Reihe an, um die notwendige geopolitische Schlagkraft zu entwickeln. Zu den Mächten in der zweiten Reihe gehören lateinamerikanische Staaten, einige afrikanische Staaten, Teile Südostasiens sowie der arabischen Länder.
- Darüber hinaus gibt es Mächte der dritten Reihe, die man aus Sicht der ersten Reihe gelegentlich als Unterstützer benötigt, auf die man allerdings nicht wirklich angewiesen ist. Diese Mächte verschieben die weltpolitische Gewichtung nicht.
- Darauf folgen Mächte der vierten Reihe, die geopolitisch schlichtweg irrelevant sind.
Literatur:
[1] Carlo Masala: „Weltunordnung: Die globalen Krisen und das Versagen des Westens“, Hanser Verlag, München 2022
[2] Alexander Siedschlag: „Neorealismus, Neoliberalismus und postinternationale Politik Beispiel internationale Sicherheit — Theoretische Bestandsaufnahme und Evaluation“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1997
[3] Herfried Münkler: „Welt in Aufruhr: Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“, Verlag, Berlin 2023


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