Die klaren politischen Pole gehen zunehmend verloren. Wenngleich man meinen möchte, dass dieser Umstand zu einer Entspannung führen würde, weil die klassische Links-Rechts-Dichotomie aufgehoben wird, ist eher das Gegenteil, nämlich eine multipolare Anspannung, der Fall. Die Konfliktherde nehmen zu und nicht ab.
Wer über einen realistischen Zugang zur Politik verfügt, kann diesen Umstand gewissermaßen nachvollziehen. Die liberalistische Individualisierung schreitet rasant voran. Macht wird allerdings in der Regel nicht aus der Welt geschaffen, sondern wandert an anderweitige Strukturen. Die Macht hat einen ähnlichen Charakter wie die physikalische Energieerhaltung und bleibt erhalten. Die klassische Dichotomie steht am Ende doch wieder zur Verfügung, nur nicht in offener Auseinandersetzung, sondern in hysterischen Moraldebatten zwischen „gut“ und vermeintlich „böse“.
Gefangen in sozialen Blasen wird heute zunehmend die eigene Blase mit der ganzen Welt verwechselt, relatives wird absolut gesetzt und daraus ergeben sich harte Auseinandersetzungen, die objektiv betrachtet nicht immer zentral und schon gar nicht absolut sind. Und wir kennen es von uns selbst: Im Eifer der Auseinandersetzung steigt uns der Stress zu Kopfe und betrübt den klaren Blick und die strukturierten Gedanken.
Gab es bis vor wenigen Jahrzehnten und Jahren noch klare politische Divergenzen, verfügt heute jedes nur denkbare politische Thema über ein immenses Konfliktpotential mit schier unüberwindbaren Gegensätzen und Ansichten, die zunehmend auch noch moralistisch ausgetragen werden, infolgedessen emotional bis hysterisch werden.
Schlecht hat es derjenige, der an möglichst breitem Konsens interessiert ist, welcher vielfach nicht mehr möglich ist. Auch nicht unter Bezugnahme auf utopische Gesellschaftstheorien. Ausweg verschafft häufig nicht die abstrakte Utopie, sondern nur die Rückführung auf das Politische, auf Abstimmung und Entscheidung, und die breite Beteiligung an der Machtabfrage. In den Mittelpunkt zu stellen ist der einigende Charakter einer Wahl, indem Haltungen und Meinungen politisch faktisch werden.
Infolgedessen müssen wir künftig mit einer größeren politischen Zersplitterung rechnen, jeder will individualistisch und egozentrisch seine eigene Meinung verfolgen, die politische Stabilität ist beeinträchtigt und die Handhabung der Macht wird deutlich aufwändiger. Schnelle Regierungsbildungen und absolute Mehrheiten sind zunehmend schwierig, weil die politische Zersplitterung weiter voranschreitet; und wird gerade durch jene beanstandet, die aktiv zersplittern.
Die Frage nach einer integrativen Politik, die Widersprüche in den Hintergrund und das Vereinigende in den Mittelpunkt zu stellen vermag, stellt sich zurecht. Es geht dabei mehr denn je darum, das Bewusstsein für die großen Fragestellungen, für die effektiven Grenzverläufe und Kontrapunkte zu schaffen. Vieles, das heute absolut erscheint, ist dann relativ und höchstens nebensächlich.
Öfters ist die zentrale Frage zu stellen: Ist diese oder jene politische Fragestellung für den Erhalt unserer Heimat und unserer Bevölkerung von primärer oder nachrangiger, also symbolischer bis ästhetischer, Bedeutung? Und wenn wir die großen Fragen zuerst beantworten wollen, auch: Welche dieser Fragestellungen betreffen derzeit alle Völker und Länder? Und welche Fragen sind effektiv nur aus provinzieller Kleinlichkeit heraus scheinbar wesentlich, relativieren sich aber im größeren Ganzen? Dann stellen sich die Fragen neu.
Wichtig ist natürlich auch das provinzielle und regionale: Wenn uns aber im Großen der Boden entzogen wird, rutschen auch die eigenen sieben Berge weg.


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